Rezension über:

Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele, München: Wilhelm Fink 2019, VIII + 569 S., 149 Farbabb., ISBN 978-3-7705-6373-9, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Sabine Busch-Frank
Theaterkommunikation München
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Busch-Frank: Rezension von: Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele, München: Wilhelm Fink 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/33693.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters

Textgröße: A A A

Evelyn Annuß leistet mit ihrer Habilitationsschrift eine theaterwissenschaftliche Einordnung der Inszenierung der Masse Mensch im 'Dritten Reich'. Nicht chronologisch vorgehend, sondern theaterästhetische und historische Aspekte zu Schwerpunkten ihrer Analyse wählend, strukturiert sie hierbei ihr Thema: "Regierungskünste" heißt das Kapitel, welches die politische und aufführungspraktische Ausgangssituation umreißt, unter Aspekten wie "Inszenierungskongruenzen", "Architekturtheater", "Thingspiele" oder "Landschaftsbühne" leuchtet sie ihre Themenstellung aus.

Allerdings ist der üppige Band leider trotz einiger Schwarzweißabbildungen und Zitate aus schwer zugänglichen Quellen nicht durchgängig so gut lesbar, wie es dieses zeit- wie theaterhistorisch spannende Thema verdienen würde. Breites Vorwissen und die Kenntnis von Strukturen wie Personen und ihren Funktionen im 'Dritten Reich' werden stillschweigend vorausgesetzt, spürbar ist der voluminöse Band darauf angelegt, nur einem Kreis von Spezialisten Zugang zu gewähren.

Die derzeit in Bochum und Wien lehrende Wissenschaftlerin betrachtet die ihrer Forschung zugrunde liegende Theaterform nicht als historische Errungenschaft des Nationalsozialismus, sondern verortet sie in der deutschsprachigen Traditionslinie des theatralen Umgangs mit Chor und Masse. Sie skizziert diese Entwicklung von den Passionsspielen in Oberammergau über Christoph Schlingensief bis zu freien Kollektiven unserer Zeit. Dies ist eine zweifellos interessante These: Abstraktion und Antinaturalismus waren ja tatsächlich schon vor den 1930er Jahren ästhetische Zielsetzungen, und auch Immersion und Partizipation sind letztlich zwar Schlagworte unserer Zeit, denken aber die Überlegungen von Laban, Reinhardt oder Brecht weiter.

Annuß wählt für ihre Ausführungen allerdings im Folgenden eben nicht die Deskription eines zeitlichen Ablaufes, sondern setzt auf eine wirkungsästhetische Analyse.

Die Entstehung der Volkstheaterbewegung in der NS-Zeit umreißt sie hierfür überaus klar: Ab 1933 erfolgte unter den neuen politischen Machthabern auch eine Neubefragung der in der Weimarer Zeit entwickelten szenischen Mittel. Das starke Interesse der nationalsozialistischen Machthaber an Formen der Inszenierung großer Menschengruppen bedeutete für die Avantgarde jener Zeit eine einmalige Chance: Sie bot ihr Know-how der jungen Regierung an, so dass man, so Annuß, die "Volksschule des Theaters" durchaus als angewandte Theaterwissenschaft begreifen kann. Genau wie die damals junge Disziplin der Theaterwissenschaft mit frühen Vertretern wie Carl Hubert Niessen (1890-1969) ihre Unschuld an die NS-Zeit verlor, erging es also zeitgleich der theatralen Form des Massentheaters.

Spannend sind auch ihre Schlüsse zu den Inszenierungen der 1. Mai-Feier oder des Reichsparteitags vor dem Hintergrund der "Unsichtbarkeit", wie sie das Bayreuther Festspielorchester und Radioansprachen eingeführt hatten. Während heutige Massenveranstaltungen, beispielsweise Großkonzerte, durch unsere Erfahrungen als Fernsehnation die Großaufnahme auf Screens und damit scheinbare Nähe zur Hauptfigur erfordern, bildete in der NS-Zeit das Radiohören die empirische Ausgangsposition. Das hörende Volk jener Tage erlebte daher auch die Überhöhung der Stimme seiner Führerfigur, so Annuß, als logische Steigerung einer Radioansprache. Radiohörern genügte es, in der Masse zusammenzukommen, über Lautsprecher den 'Führer' zu hören und ihn als fernen Punkt zu erahnen. Da Hitler kein überzeugender Studiosprecher war, wurde der Jubel des Volkes - heute vielleicht vergleichbar dem Sitcom-Lachen des Publikums - zusammen mit seiner Rede aufgenommen, was die Illusion einer Live-Situation abermals unterstrich.

Solcherart interessanter Rückschlüsse und ihre Weiterentwicklung bietet der Band vielfach. Die umfassende, über Jahrzehnte erworbene Vertrautheit der Autorin mit ihrem Stoff ermöglicht ihr die Einbeziehung aller Sparten - Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Film - der darstellenden Künste, sie rekurriert auf kulturelle Zentren wie die Provinz, analysiert bekannte wie weniger bekannte Quellen. So setzt sie beispielsweise gegen Leni Riefenstahls Propaganda-Film "Triumph des Willens" sehr aufschlussreich Reinhold Schünzels "Amphitryon"-Fassung.

Die Autorin übersetzt dabei ihre oft redundant überbordenden Quellen aus Zeitschriften und wissenschaftlichen Abhandlungen der NS-Zeit gern in heutigen Duktus, spricht also von Zielgruppen und Kollaboration, Kollektiv, Doing oder Netzwerkstrukturen. Somit erlangt sie eine Perspektive auf der Höhe des derzeitigen wissenschaftlichen Diskurses, die allerdings mit der Gefahr eines womöglich bald endenden Verfallsdatums behaftet ist.

Ihr kluger Blick auf eine ereignisreiche und dynamische Phase der deutschen Kulturgeschichte endet etwa mit Kriegseintritt, als Film und Kino zu Volksmedien der Stunde wurden. Der Aufbruch legte, wie bekannt, schnell die Fratze des Niedergangs an. Dazu Annuß: "Nach seinem Zusammenbruch hinterlässt der NS-Apparat anstelle der angekündigten 400 Thingstätten etwa Zwangsarbeiter-, über 1.000 zentral organisierte Konzentrations- und sieben Vernichtungslager." (439).

Überzeugend setzt die Autorin ihre Schlussthese, wo sie ausgehend von den nicht ganz neuen Diskursen, die Hannah Arendt einerseits und Michel Foucault andererseits angestoßen haben, feststellt, dass sich auch heutige Kunst hinter ihrer reinen Funktionalität verschanzt und dabei womöglich jene gesellschaftliche Relevanz anheimgibt, welche in ihrer Verantwortung läge. Annuß' Anliegen ist, hier eine Frage zu stellen, die "durchaus auch massenkulturell verhandelt wird: welcher Künste eines anderen Zusammenlebens wir bedürften, das Regimen exklusiver Inklusion widerstreitet um uns nicht so regieren zu lassen" (452).

Dankenswert auch, dass diese fleißige und umfassende Arbeit durch ein Personen-/Stück-/Orts- und Sachregister erschlossen ist, nachfolgende Forscherinnen und Forscher werden dies zu würdigen wissen.

Sabine Busch-Frank