Rezension über:

Wojciech Kunicki: Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Studien zur neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2019, 422 S., ISBN 978-3-96023-261-2, EUR 49,00
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Rezension von:
Kristin Eichhorn
Universität Paderborn
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Kristin Eichhorn: Rezension von: Wojciech Kunicki: Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Studien zur neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/34614.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Wojciech Kunicki: Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918

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Nachdem Wojciech Kunicki bereits im Jahr 2002 eine umfangreiche Studie zur Entwicklung der Germanistik an der Universität Breslau zwischen 1918 und 1945 vorgelegt hat [1], greift er in seinem neuen Buch, das thematisch daran anschließt, chronologisch weiter aus und präsentiert eine ergänzende Monografie zur Breslauer Germanistik zwischen 1811 und 1918. Die beiden Bücher müssen unbedingt im Zusammenhang betrachtet werden, da die erste Studie einige der hier ausführlicher behandelten Aspekte zum Verständnis bereits anreißt (namentlich im dortigen zweiten Kapitel zur Vorgeschichte bis 1911 [2]) und es somit einige punktuelle Überschneidungen gibt.

Die Geschichte der Breslauer Germanistik wird, wie schon in Kunickis erster Studie, vorrangig als Geschichte einzelner Lehrstuhlinhaber, Extraordinarien und Privatdozenten erzählt, was die Bildtafeln im Anhang unterstreichen. Ausgehend von den vielseitig verzahnten Einzelkarrieren legt Kunicki den Schwerpunkt seines Buches auf die großen Linien der Etablierung der Neueren deutschen Literaturwissenschaft (beziehungsweise der Neueren deutschen Literaturgeschichte) als eigenständiger Fachbereich. Dabei spielte Breslau, wie Kunicki in seiner Schlussbetrachtung summiert, "wirklich die Vorreiterrolle, und zwar nicht nur unter den 'Germanisten', sondern eher unter den Ästhetikern [...], Historikern [...], Romanisten [...], Wissenschaftshistorikern" (378). Auffällig ist in der Gesamtschau zudem, dass keiner der Breslauer Professoren den Habitus des bescheidenen Forschers, "apolitisch und unauffällig am Rande der bürgerlichen Gesellschaft", pflegte, sondern sie sich allesamt in zum Teil erbitterte Polemiken einmischten, wie etwa "die Tiraden eines Max Koch gegen Gerhart Hauptmann zeigen" (379). Insofern lässt die Studie Rückschlüsse auf Selbstverständnis und öffentliches Auftreten der Breslauer Gelehrten zu, die sich mit den Erkenntnissen anderer Untersuchungen zur Geschichte der Germanistik [3] in diesem Zeitraum zusammenführen ließen. Einzelnen wie Koch widmet Kunicki dabei besondere Aufmerksamkeit, da sich anhand seiner Breslauer Karriere mustergültig die institutionelle Implementierung der Neueren deutschen Literaturgeschichte in Breslau aufzeigen lässt. Der Abriss endet mit einem kurzen Kapitel zur Breslauer Germanistik während des Ersten Weltkriegs, der für diese personelle Einbußen bedeutete, weil Max Koch und Karl Drescher an die Front berufen wurden.

Anders als dem Vorgängerwerk fehlt Kunickis neuem Buch eine systematische Gliederung in thematische Abschnitte. Gibt seine Studie von 2002 mit ihrem historischen Überblick der Entwicklung bis 1911 und Schwerpunkten zu der Lehrstuhlstruktur, der Lehre und studentischen Mitwirkung, den Forschungsfeldern um 1933, der Erforschung der Literaturgeschichte Schlesiens sowie den Ehrenpromotionen und Würdigungen dem Leser eine klare Orientierungshilfe, fehlt dem vorliegenden Band eine solche Makrogliederung. Die (leider unnummerierten) Kapitel sind größtenteils einzelnen Wissenschaftlern gewidmet, deren Wirken in Breslau in ausführlichen Quellenlektüren dargestellt wird. Dadurch fällt es mitunter schwer, die übergeordneten Zusammenhänge im Blick zu behalten und die Ausführungen zu den einzelnen Forschern historisch einzuordnen. Einleitung und Schlussbetrachtung sind beide sehr kurz und beseitigen dieses Desiderat folglich nur ansatzweise.

Die große Detailliertheit der Darstellung ist zweifellos durchweg beeindruckend, verleiht den Ausführungen aber mitunter auch recht anekdotischen Charakter: Im Zentrum stehen durch die gewählte Anlage über weite Teile die Ränkespiele und Auseinandersetzungen der Wissenschaftler untereinander bzw. der Wissenschaftler mit dem zuständigen Ministerium. Dies gilt bereits für den Anfang, wenn Kunicki über mehrere Seiten die Bemühungen Friedrich Heinrich von der Hagens um eine Gehaltserhöhung darstellt und mit längeren Briefzitaten belegt. Ist dieser Abschnitt noch argumentativ eingebunden, liefert der Autor in einem späteren Kapitel zur Berufung Friedrich Vogts fast nur noch Quellenmaterial, größtenteils ohne eigene Kommentierung. Die einzige Deutungsperspektive wird über die Kapitelüberschrift eingeführt, die mit ihrem Untertitel "eine politische Entscheidung?" (352) immerhin einige Brisanz nahelegt. Hier hätte man sich weitere Ausführungen gewünscht, die diese Diskussion inhaltlich vertiefen. Auch erschließt sich beim Lesen nicht ganz, warum einige der Materialien in grauen Kästen als "Anhang" (zum Beispiel 355-358) präsentiert werden, andere hingegen in den Haupttext eingearbeitet sind.

Das Buch verfährt im Aufbau größtenteils chronologisch. Allerdings gibt es Abweichungen von diesem Prinzip - etwa, wenn Friedrich Vogt im Kapitel zu Max Koch bereits als Ordinarius eingeführt wird, das Material zu dessen Berufung aber erst 60 Seiten später nachgeliefert wird. Derartige Sprünge sowie die in ihrer Funktion nicht immer zuzuordnenden Exkurse beeinträchtigen die Lektüre dieses sonst enorm verdienstvollen Werks. Sie hätten durch eine Binnengliederung oder Erläuterung, die die Gründe für diese Anordnung transparent macht, vermieden werden können.

Trotz dieser Kritikpunkte im Aufbau, die das Buch etwas weniger leicht handhabbar machen als die vorangegangene Studie, bleibt auch hier noch einmal die Leistung des Verfassers hervorzuheben, der in umfassender Quellenarbeit eine weitere Lücke der Wissenschaftsgeschichte geschlossen hat. Viele Teilaspekte werden freilich erst angerissen und entsprechend nur sehr kurz behandelt. Hier muss die künftige Forschung ansetzen. Eine Landkarte, mit deren Hilfe sie sich auf diesem Feld einen ersten Überblick verschaffen kann, steht mit Kunickis Monografie nun zur Verfügung.


Anmerkungen:

[1] Wojciech Kunicki: Germanistik in Breslau 1918-1945, Dresden 2002.

[2] Ebenda, 19-32.

[3] Vgl. zum Beispiel zum polnischen Kontext Jan Papiór: Polnische Germanistik in Polen im 19. und 20. Jahrhundert. Programme - Geschichte - Studien - Bibliographien zur Wissenschaftsgeschichte, Częstochowa 2012.

Kristin Eichhorn