Rezension über:

Katia Baudin / Elina Knorpp (Hg.): Folklore & Avantgarde. Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne, München: Hirmer 2020, 328 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-7774-3383-7, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Marita Metz-Becker
Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Marita Metz-Becker: Rezension von: Katia Baudin / Elina Knorpp (Hg.): Folklore & Avantgarde. Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne, München: Hirmer 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 1 [15.01.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/01/34819.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Katia Baudin / Elina Knorpp (Hg.): Folklore & Avantgarde

Textgröße: A A A

Der 328 Seiten umfassende Ausstellungskatalog ist anlässlich der zwischen November 2019 und Februar 2020 im Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum präsentierten Schau "Folklore & Avantgarde - Die Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne" erschienen. Im Jubiläumsjahr "100 Jahre Bauhaus" wurde die Kunst der Protagonisten der Avantgarde in Dialog gesetzt mit lokalen folkloristischen Traditionen, insbesondere mit Kunsthandwerk und Volkskunst, die sie bei der Entwicklung einer neuen künstlerischen Sprache einbauten.

Werke von Künstler*innen wie Josef Albers, Sonia Delaunay, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso, Gabriele Münter, Charles Sheeler, Sophie Taeuber-Arp, Paul Gauguin, Heinrich Macke u.v.a. wurden auf die ihnen zugrunde liegenden volkstümlichen Traditionen untersucht und es wurde gezeigt, wie sich die internationale Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer Formensprache auch an Bauernmalerei, traditionellem Töpferhandwerk oder überlieferten Webtechniken orientierte. Die Künstler*innen brachen genauso die Grenzen zwischen angewandter und bildender Kunst auf wie sie die klassischen Hierarchien der Künste in Frage stellten. Aus der Kritik am industriellen Zeitalter gründeten sie Künstlerkolonien in ländlichen Gebieten oder ließen sich von den volkstümlichen Traditionen und kunsthandwerklichen Verfahren anderer Kontinente inspirieren. Dabei setzten sie sich intensiv mit den Formensprachen und Techniken der jeweiligen Ethnien auseinander, auf die sie in vielen Teilen der Welt stießen. Picasso etwa begeisterte sich für afrikanische Masken, Gabriele Münter für oberbayerische Hinterglas- und Votivmalerei, Elie Nadelmann sammelte amerikanische Volkskunst, Anni und Josef Albers reisten nach Mexiko, wo sie insbesondere die Kraft der präkolumbischen Kunst in den Bann zog.

Die enge Verstrickung zwischen Kunst, Architektur, indigenen Traditionen und nationaler Identität erreichte mit der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 einen Höhepunkt, etwa mit der Idealisierung eines Schweizer Dorfes mit Fachwerkhäusern und geschnitzten Holzfassaden oder kolonialen Pavillons, die die einheimische Architektur und das Kunsthandwerk des jeweiligen Landes betonten. Viele der Künstler*innen verarbeiteten ihre Eindrücke, die sie im Exil oder bei Forschungsreisen in andere Länder gewonnen hatten, mit einer eigenen Avantgardesprache, in der das Fremde mit der heimischen Kunst- und Kulturgeschichte verschmolz. So war beispielsweise die erste Avantgardebewegung mit ihrem Kubismus und Expressionismus stark von diesen Erfahrungen geprägt, wenn etwa Kirchner für sein Schweizer Chalet Türen schnitzt, die an afrikanische Stammeskunst erinnern. Vom westlichen Kunstkanon befreit hat sich auch Paul Gauguin, der auf Tahiti seinen expressiven Stil mit seinen starken farblichen Kontrasten entwickelte.

In der Ausstellung gaben Exponate aus aller Welt überraschende Einblicke in die Entstehungsbedingungen der Avantgarde vor einhundert Jahren, die erstmals die Verbindung zwischen Kunst und Alltagskultur schuf, wobei ein besonderer Fokus auf der Entwicklung in Europa und den USA lag. Mit über 350 internationalen Leihgaben aus 38 privaten und öffentlichen Sammlungen zusammen mit ausgewählten Exponaten aus dem Krefelder Bestand kann die Ausstellung als das erste ambitionierte Projekt dieser Art gelten. Neben Gemälden, Skulpturen und Skizzen waren Textilarbeiten, Teppiche, Keramik, Möbel, Kostüme und Filme der Avantgarde zu sehen. Mit wissenschaftlichem Anspruch und interdisziplinärer Herangehensweise wurden die Leihgaben durch Zeugnisse europäischer und außereuropäischer Volkskunst sowie durch umfangreiche archivalische und historische Dokumente kontextualisiert.

Der vorliegende Ausstellungskatalog versteht sich als Standardwerk zur Erforschung der oben skizzierten Phänomene. 13 internationale Autoren*innen stellen ihre neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse vor, wobei das Buch die Choreografie der Ausstellung reflektiert und deren thematischen Leitlinien folgt. Mit 350 zum Teil großformatigen farbigen Abbildungen ist der Band ein Augenschmaus für Kunstliebhaber*innen, aber auch ein Lesebuch auf hohem Niveau, das die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema nicht scheut. Die anspruchsvollen Texte sind weniger an ein Laienpublikum als vielmehr an 'Insider' gerichtet, die der neue Blick auf die spannende Entwicklung der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der Volkskunst neugierig gemacht hat.

Als Manko darf angeführt werden, dass der Begleitkatalog während der Ausstellungszeit leider nicht vorlag. Verspätet erschienen, wird er trotzdem all jene begeistern, die die spezifische Auseinandersetzung der avantgardistischen Künstler*innen in der Begegnung mit anderen Kulturen und Ländern wissenschaftlich verfolgen möchten.

Marita Metz-Becker