Rezension über:

Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung. Hackerkulturen der Bundesrepublik und DDR (= Geschichte der Gegenwart; 24), Göttingen: Wallstein 2021, 392 S., ISBN 978-3-8353-3370-3, EUR 34,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jonathan Voges
Leibniz Universität Hannover
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Jonathan Voges: Rezension von: Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung. Hackerkulturen der Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/35524.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung

Textgröße: A A A

Während der Rezensent an der Buchbesprechung arbeitet, geht bei ihm eine Mail ein; in Google-Translator-Deutsch beichtet ein namenlos bleibender Absender, dass er in seinen Computer eingedrungen sei, seine Internetaktivitäten nachvollzogen habe und insbesondere die häufigen Besuche auf "Pornoseiten" genauestens registrieren konnte - gegen eine Zahlung von Bitcoins im Gegenwert von 1000 US-Dollar werde er die dabei heimlich mit der eigenen Kamera erstellten Filme löschen, bleibe die Bezahlung aus, gingen die Videos an alle Kontakte im Mail-Postfach.

Worauf spekuliert jemand, der derartige Nachrichten verschickt? Sicher auf die Unbedarftheit der Adressaten, die den Betrug nicht durchschauen können. Zugleich aber auch darauf, dass das "Hacken" heutzutage eine zum einen noch immer mit einem gewissen geheimnisvollen Schleier umgebene Tätigkeit ist und Hackern deshalb zum anderen viel zugetraut wird - sowohl was ihre technischen Fertigkeiten als auch ihre moralische Skrupellosigkeit betrifft.

Julia Gül Erdogan widmet sich in ihrer am Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam entstandenen Dissertation einer ganz anderen Generation von Hackern und verfolgt dabei auch andere Fragestellungen als die Suche nach möglichen kriminellen Computernutzungen - ja, sie schreibt im Grunde geradezu gegen ein Bild der Hacker an, das von unlauterer Beeinflussung von Wahlen, verstörenden Aktivitäten im "Dark Net" und Cyberkriminalität geprägt ist. Hier könnte man vielleicht auch den einzigen gewichtigen Kritikpunkt an der Studie anbringen: Die dunkle Seite des Hackens kommt nur in Ansätzen vor, vielmehr geht es ihr darum, eine Geschichte des digitalen Aufbruchs, der computergestützten Selbstermächtigung und der - vor allem auch humorvollen - Aneignung einer neuen Technologie zu schreiben.

Und genau das gelingt ihr herausragend gut: Ihr Anliegen ist nichts weniger als eine alternative Geschichte der Computerisierung zu schreiben, in deren Zentrum nicht die großen Unternehmen, das Militär oder Infrastrukturdienstleister (wie im westdeutschen Fall die Bundespost) stehen, sondern (zumeist männliche) Individuen, die über den spielerischen Umgang mit Computern selbst zu Agenten der Digitalisierung und Computerisierung wurden.

Gerade die Idee des Spiels, die Erdogan mit Rückgriff auf Johan Huizinga stark macht, eignet sich besonders gut, um zu verstehen, was die von ihr in den Blick genommenen Hacker (und "Haecksen") taten und welche Folgen ihre Praktiken zeitigten. Neben zwei chronologischen Kapiteln, die sich dem Entstehen der US-amerikanischen Hackerkultur und deren bundesdeutschen und DDR-Pendants befassen, wählt Erdogan einen thematischen Zugriff. So widmet sie "Generation und Gender", den hackereigenen Selbstverständnissen ("Datenschützer und Aufklärer") und ihrer "Gemeinschaftsbildung" eigene Großkapitel. Ein solches Vorgehen bedingt, dass zuweilen Wiederholungen auftreten - das ist aber nur ein geringer Preis, den der Leser für konzise und - vor allem auch dank der zeitgenössischen Zitate - unterhaltend geschriebene Analysen zu zahlen gerne bereit ist.

Alle drei analytischen Kapitel vermögen zu überzeugen und sind auch jeweils für sich zu lesen. Im Kapitel zur generationellen Zugehörigkeit der Hacker und der Unterrepräsentation von weiblichen Mitgliedern in der Community ist besonders interessant, dass dies nicht allein Fragen sind, mit denen die Historikerin sich ihrem Gegenstand nähert. Vielmehr waren sie auch schon Teil der zeitgenössischen Diskussionen. Besonders anregend sind dabei die Abschnitte, in denen sich Erdogan den Versuchen von Frauen und Mädchen annimmt, selbst "Haecksen" zu werden und sich so in den Prozess der Computerisierung von unten einzuschreiben.

Neben der Betonung des spielerischen Erkundens, ein Element, das Erdogan in ihrer gesamten Studie als leitbildgebend für die Hackerkultur beschreibt und das sehr gut gegen die ernsthaft (und damit allzu "erwachsen") auftretenden Gegner - hier vor allem die Bundespost - in Anschlag gebracht wird, geht die Autorin auf das Selbstverständnis der Hacker ein, eine kritische Stimme im Digitalisierungsprozess der 1980er Jahre zu sein. Sie verstanden sich als datenschützendes Korrektiv, wiesen auf Sicherheitslücken hin und verpflichteten sich darauf, zwar in fremde Netze einzudringen, dort aber keinen Schaden anzurichten - und vor allem auch die so gewonnenen Kenntnisse für die Verbesserung des Datenschutzes einzusetzen. Diese selbstzugeschriebene Rolle wurde von der Gegenseite in vielen Fällen nicht mitgetragen; Hacker wurden entweder als Kriminelle oder aber als Querulanten und "Spinner" abgetan, die auf Probleme verwiesen, die entweder gelöst worden seien oder nie bestanden hätten. Interessant ist hierbei das von Erdogan herausgearbeitete Zusammenspiel von alten und neuen Medien - insbesondere das Fernsehen berichtete breit über die Aktivitäten zum Beispiel des Chaos Computer Clubs und sorgte so dafür, dass die Hacker (beziehungsweise deren charismatische Aushängeschilder wie Wau Holland) auf ihre Anliegen aufmerksam machen und ihr Können massenmedial vermittelt unter Beweis stellen konnten.

Erscheint der "Computerfreak" (ein Begriff, den Erdogan vielleicht etwas vorschnell ohne Anführungszeichen und damit als valide Beschreibungskategorie ihrer Akteure verwendet) häufig vor allem als isoliert vor sich hin programmierender und in fremden Netzen vagabundierender Einzelkämpfer, macht Erdogan deutlich, dass das Hacken gleichzeitig auch eine gemeinschaftsstiftende Praxis war; und das nicht nur in der DDR, wo schon mangels privatem Equipment das gemeinsame Arbeiten am Computer noch stärker die Regel war als in Westdeutschland. Um das Hacken herum gründeten sich Clubs, entstanden Netzwerke und erschienen Zeitschriften, die die Hacker miteinander ins Gespräch brachten - und in denen nicht allein Themen aus dem Bereich Computer, sondern auch andere gesellschaftspolitische Fragen verhandelt wurden.

Erdogan legt so einen wichtigen Beitrag zur jüngsten Zeitgeschichte vor [1]; sie tut dies auf der Höhe der Forschung zur Geschichte der 1980er Jahre, mit einem um transnationale Bezüge erweiterten nationalgeschichtlichen Blick und vor allem mit einer konsequent deutsch-deutschen Perspektive - sofern es ihre Quellen erlauben. Dafür wertet sie neben der vorhandenen Literatur zahlreiche milieuspezifische Publikationen und Zeitschriften aus, sichtet Nachlässe und Vereinsarchive und hat selbst auch Oral-History-Interviews geführt. Ihr Buch ist so nicht allein ein Beitrag zur Computerisierungsgeschichte aus einer Perspektive von unten, sondern zugleich auch ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte unter Berücksichtigung einer ihrer Schlüsseltechnologien, zur Erforschung der Neuen Sozialen Bewegungen und des Alternativen Milieus [2], denen Erdogan die Hacker gut begründet zurechnet, und zuletzt auch zur Konsum- und Freizeitgeschichte. Denn ihr gelingt es, am Beispiel des Hackens die Rolle aufzuzeigen, die Nutzerinnen und Nutzer bei der Entwicklung von Konsumprodukten spiel(t)en [3]. Die Hacker sind dabei sicher eine besonders selbstbewusste Gruppe von Usern, die die ihnen bereitgestellten Dinge nicht in dem Sinne verwendeten, wie sie seitens der Hersteller gedacht waren (oder sich direkt selbst eigene Produkte zusammenbastelten), sie waren aber keineswegs die einzigen: Ähnliches findet sich zum Beispiel auch im Bereich des Do-it-yourself beziehungsweise des Heimwerkens.


Anmerkungen:

[1] Vgl. allgemein auch Frank Bösch (Hg.): Wege in die digitale Gesellschaft. Computernutzung in der Bundesrepublik 1955-1990, Göttingen 2018.

[2] Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.

[3] Vgl. z.B. Colin Campbell: The Craft Consumer. Culture, craft and consumption in a postmodern society, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005), 23-42.

Jonathan Voges