sehepunkte 23 (2023), Nr. 11

Meron Mendel: Über Israel reden

Die Entwicklungen in Israel sind momentan wieder sehr präsent. Die geplante Entmachtung des obersten Gerichtshofs durch die rechte Regierung weckt Befürchtungen über den demokratischen Charakter der israelischen Gesellschaft in der Zukunft. Die Kritik daran ist auch in der deutschen Presse laut, wohingegen sich politische Entscheidungsträger bislang diplomatisch zurückhaltend äußern.

Eine politische Kritik an dieser faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung ist mehr als angebracht. In Deutschland den jüdischen Staat jedoch zu kritisieren, birgt vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Juden viele Fallstricke. Nicht selten driftet eine angebliche Kritik an der israelischen Regierung in antisemitische Topoi ab. So verwundert es, mit welcher Vehemenz immer wieder ein Recht auf "Israelkritik" eingefordert wird, als ob Israel nicht kritisiert werden dürfe. Schließlich fordert auch niemand explizit ein Recht auf "Norwegen-" oder "Australienkritik" ein. Irgendwas Eigentümliches muss es also mit der Debatte um Israel in Deutschland auf sich haben.

Genau dieser Frage geht Meron Mendel in seinem vielfach ausgezeichneten Buch nach. Er ist Professor für transnationale Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Der in Israel geborene Autor lebt seit gut zwanzig Jahren in Deutschland und verfolgt die hiesige Diskussion über sein Heimatland seitdem mit einigem Befremden.

Er erläutert im Vorwort zunächst seine Perspektive als linker Israeli, der durch den Nahostkonflikt politisiert wurde. Seinen Militärdienst leistete er in Hebron ab, wo die Armee 500 Siedler in einer Stadt mit 200.000 palästinensischen Einwohnern bewacht. Dort erlebte er die alltägliche Diskriminierung der Palästinenser. Er boykottierte Waren aus Siedlungen, rezipierte linke israelische Philosophen und engagierte sich für eine friedliche Zweistaatenlösung. Gewissermaßen verkörperte er den progressiven Juden in Israel. In Deutschland erlebte er aber, dass die Debatten über Israel und die BDS (Boykott, Desinvestionen und Sanktionen)-Kampagne unter gänzlich anderen Vorzeichen ablaufen. Davon handelt das Buch, das sich in vier Kapitel gliedert: die Debatte um die deutsche Staatsräson gegenüber Israel, die Auseinandersetzung um BDS, das Verhältnis der Linken zu Israel und die deutsch Erinnerungskultur.

Im ersten Kapitel behandelt er das wechselhafte Verhältnis der Bundesrepublik zum jüdischen Staat. Nach anfänglicher Distanz verbesserte es sich im Laufe der Jahrzehnte, mit dem Sechstagekrieg als Einschnitt. Mittlerweile sei die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, betonte. Auf politischer Ebene werde diese Position noch immer propagiert, allerdings habe sich das Verhältnis etwas verändert, zumal die Haltung in einem Großteil der Bevölkerung trotz der staatsoffiziellen Haltung immer skeptischer war. Mendel kritisiert auch die AfD sehr deutlich, die sich zwar offensiv zu Israel bekenne, aber faktisch antisemitische und geschichtsrevisionistische Stereotype reproduziere und die proklamierte Solidarität mit Israel nutze, um gegen Muslime und Flüchtlinge zu hetzen.

Das folgende Kapitel behandelt die Auseinandersetzung um die BDS-Bewegung, die zum Boykott Israels aufruft. Sie ist in den 2000er Jahren aufgekommen, sei lose strukturiert und recht heterogen. Mendel bezeichnet sie nicht als per se antisemitisch, weist aber darauf hin, dass sich in ihr zahlreiche Antisemiten tummeln. In vielfacher Hinsicht schade sie der angeblich angestrebten Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern. So schildert der Autor ein Schulprojekt einer deutschen und einer israelischen Schule. Zwei Lehrer boykottierten das Vorhaben mit Bezug auf BDS. Absurderweise handelte es sich bei der Schule in Israel um eine arabisch-palästinensische Einrichtung. Deshalb schlussfolgert Mendel: "Das Sprechen über den Nahostkonflikt ist bloß vorgeschoben, die reale Situation vor Ort ist vielen BDS-Anhängern erstaunlich egal." (76)

Im weiteren Fortgang schildert er die Konflikte, die sich nach dem Bundestagsbeschluss 2019 ergaben, der die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung als antisemitisch bezeichnete. Anhand der Kontroverse um die Einladung des Philosophen Achille Mbembe, der Initiative GG 5.3 und der Documenta fifteen, die sich alle um das Verhältnis von Antisemitismus und der Kritik an Israel drehten, zeigt Mendel auf, wie festgefahren und selbstbezogen die Diskussion in Deutschland ist. Seine zahlreichen Versuche, eine kritische Debatte anzuregen, scheiterten allesamt. Deshalb schlussfolgert er: "Solange in Deutschland beide Seiten den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nur als Projektionsfläche nutzen, um ihre eigene moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, wird keine aufgeklärte Diskussion möglich sein" (111).

Das nächste Kapitel behandelt das Verhältnis der deutschen Linken zu Israel und dem Nahostkonflikt. Nach einem historischen Überblick über die Nachkriegszeit geht der Autor auf eine Besonderheit in Deutschland ein. Nach der Wiedervereinigung bildete sich eine ausdrücklich pro-israelische Strömung in der Linken heraus, die "Antideutschen". Mendel lernte sie erst nach seiner Übersiedlung nach Frankfurt kennen, bemerkte aber bald, dass auch sie zu einer wirklichen Auseinandersetzung nicht bereit waren. Vielmehr kritisierten sie seine Position und verleumdeten ihn als "jüdischen Kronzeugen".

Jüngst bildete sich eine neue Form der antirassistischen Israelfeindlichkeit im Postkolonialismus heraus. Sie begreift die Juden als weiß und privilegiert und versteht den Antisemitismus bestenfalls als eine Unterkategorie des Rassismus, keineswegs als eigenständige Ideologie. Derartige Haltungen stünden einer ernsthaften Auseinandersetzung im Wege: "Mit Aufklärung haben die beschriebenen Kämpfe jedoch nur wenig zu tun. Vielmehr geht es den Beteiligten darum, eindimensionale Deutungsmuster zu vertreten und ganz im Sinne einer radikalen Identitätspolitik Positionen als rassistisch respektive antisemitisch zu markieren und damit zu dämonisieren" (146 f.).

Im letzten Kapitel rekapituliert Mendel die deutsche Erinnerungskultur mit Bezug auf den Nationalsozialismus und Holocaust. Deutlich kritisiert er den australischen Genozidforscher Dirk Moses, der von einem Katechismus der Deutschen fabulierte und jüdischen Historikern vorhielt, sie gerierten sich als "Hohepriester des Holocaust". Eigentlich gehe es Moses um eine Kritik an Israel, wofür die Erinnerungskultur eine Barriere darstelle. Interessant sei vielmehr, warum Moses krude Polemik in Deutschland so viel Zuspruch finde. Mendel attestiert Moses "einen Befreiungsschlag für die gequälte Seele" (161) der Deutschen vollbracht zu haben.

Ebenso kritisch sieht er das Konzept der multidimensionalen Erinnerung von Michael Rothberg. Die deutsche Debatte darum sei voller Projektionen und habe mit dem Inhalt des Buches wenig zu tun: "Michael Rothberg offeriert uns eine Lösung für ein Problem, das gar nicht existiert: Erinnerung an historische Verbrechen wird in Deutschland nicht durch die Beschäftigung mit dem Holocaust verhindert" (167). Schließlich werde schon lange verglichen und erst der Vergleich lasse die Erkenntnis zu, dass der Holocaust präzedenzlos war. Die ganze Debatte um Moses folge dem Bedürfnis, die Diskussion über Israel zu "normalisieren", also losgelöst vom Nationalsozialismus führen zu können.

In Deutschland spiele Israel eine sehr große Rolle in der öffentlichen Debatte, jedoch folge sie dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Reale Widersprüche würden nicht ausgehalten. Diese Situation verhindere eine aufgeklärte, kritische und konstruktive Auseinandersetzung auf absehbare Zeit.

Meron Mendels Buch bietet einen guten Überblick über die Debatten um Israel und die Erinnerungskultur der letzten Jahre. Es zeigt die deutschen Absurditäten aus der Perspektive eines linken Israeli auf. Es ist nicht notwendig, dem Autor in allen Punkten zu folgen, um aus der Lektüre großen Erkenntnisgewinn zu ziehen.

Anmerkung der Redaktion: Die vorliegende Rezension wurde vor den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 fertiggestellt.

Rezension über:

Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023, 224 S., ISBN 978-3-462-00351-2, EUR 22,00

Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/11/38118.html


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