Neutralität schien nach Ende des Kalten Kriegs obsolet. Österreichs Rolle als metaphorische Brücke zwischen Ost und West wurde folglich als Mythos entlarvt - vielleicht etwas zu vorschnell, wie die hier besprochene Studie nahelegt. Im Rahmen eines vom österreichischen Wissenschaftsfonds geförderten Projekts mit dem Titel "The Role of Neutral States in Soviet Foreign Policy Strategy 1969-1975" unter Leitung von Peter Ruggenthaler legt Anna Graf-Steiner eine erste aus vielen internationalen Archiven schöpfende und entsprechend tiefschürfende Studie zur sowjetischen Politik gegenüber den neutralen Staaten in der Formation der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unter besonderer Berücksichtigung Österreichs vor. Das Werk besticht durch eine breite internationale Quellenbasis, u. a. aus staatlichen Archiven in Bulgarien, Österreich, Russland, der Schweiz und den USA.
In der Untersuchung des Kalten Kriegs fand die Rolle neutraler Staaten im Ost-West-Konflikt lange kaum wissenschaftliche Beachtung - zu Unrecht, wie diese Studie zeigt. Seit eine intensivere Forschung über den KSZE-Prozess eingesetzt hat, wurde immer klarer, dass die Neutralen von nicht unerheblicher Bedeutung waren: Österreich, Schweden, Finnland und die Schweiz zuzüglich der bündnisfreien Staaten Jugoslawien, Malta und Zypern bildeten die Neutrals and Nonaligned (N+N).
Ausgehend vom gewählten Fallbeispiel wird in zehn Kapiteln die Vorgeschichte der KSZE-Schlussakte von Helsinki ausgebreitet. Hauptsächlich geht es der Autorin darum, die Frage zu klären, welche Motive hinter dem Werben um Österreichs Fürsprache für eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz standen und welcher Gestaltungsspielraum diesem neutralen Staat vor und im Rahmen der KSZE von Seiten Moskaus zugestanden wurde. Die Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz war schon seit langem ein Ziel sowjetischer Diplomatie und Propaganda. Sie bewegte sich auf der Traditionslinie der Stalin-Note von 1952. Nachdem diese eine Zurückweisung des Westens einkalkulieren musste, wurde nach der definitiven Entscheidung zur Teilung Deutschlands die Verhinderung der Westintegration und eines neuen Anschlusses Österreichs folglich sowjetisches Hauptziel. Für Moskau hatte Österreichs Neutralität als Sicherheits- und Wirtschaftsfaktor mit Blick auf dessen Verhältnis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Relevanz. Die sowjetische Botschaft in Wien artikulierte Vorbehalte und legte Vetos ein, um eine allzu starke österreichische Annäherung an die Bundesrepublik zu verhindern. Während der Plan für eine atomwaffenfreie Zone vom polnischen Außenminister Adam Rapacki auch in seiner Neuauflage von Bonn, Paris und Washington abgelehnt wurde, standen ihm Staaten wie Dänemark, Norwegen, Österreich und Schweden durchaus mit Interesse und Wohlwollen gegenüber. Österreichs Außenminister Bruno Kreisky hatte sich darüber hinaus sogar für eine Ausweitung der atomwaffenfreien Zone auf die skandinavischen Länder, Österreich, die Schweiz und Griechenland ausgesprochen.
In der Forschung wurde bislang angenommen, dass sowjetische Pressionen auf Österreich, mit Blick auf eine gesamteuropäische Konferenz aktiv zu werden, nach der Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings und dem Scheitern der österreichischen EWG-Assoziierung abgenommen hätten. Laut Graf-Steiner war dem nicht so. Bereits im Frühjahr 1969 begann Moskau in ähnlicher Weise an Helsinki heranzutreten. Finnland ergriff sodann die Initiative und rief am 5. Mai 1969 zu einer gesamteuropäischen Konferenz auf. Durch die Entscheidung für Wien als Ort der MBFR-Verhandlungen (Mutual and Balanced Force Reduction) schied die österreichische Hauptstadt für die KSZE aus. Ihr einziges militärisches Thema war das der vertrauensbildenden Maßnahmen. Die N+N-Staaten hegten hierbei ähnliche Interessen und wollten Mitsprache. Österreichs Militärberater Wilhelm Kuntner lud folglich Delegierte zu einem informellen Austausch, aus dem sich die Gruppe der N+N formierte. Seine Anstrengung, einen Kompromiss zwischen NATO- und Warschauer-Pakt-Standpunkten zu finden, wurde vom Kreml honoriert. Gleichzeitig versuchte Wien, Kompromissvorschläge vorab mit Moskau zu sondieren, um sie im N+N-Rahmen voranzubringen. Die erzielten Fristen für die Notifikationen militärischer Manöver blieben zwar hinter den gewünschten Zeiträumen zurück, doch Kuntners Vorschlag, zumindest gemeinsame Grundsätze zu formulieren, fand Eingang in die Schlussakte. Am 1. August 1975 war sie unterschriftsreif. Im humanitären Bereich war Österreich dank des Einsatzes von exponierten Diplomaten wie Franz Ceska, Helmut Liedermann und Heinrich Pfusterschmid besonders engagiert. Ihre sichtbarste Leistung kam in der aus Wiener Feder stammenden Präambel des dritten Korbs zum Ausdruck, dem man in Moskau allerdings keine Beachtung schenkte, was sich rächen sollte. Priorität hatte für die sowjetische Führung die schnellstmögliche Finalisierung der Schlussakte, um ein diplomatisches Siegel durch den Westen zu erlangen und damit dessen definitive Zustimmung zum System von Jalta zu erreichen. Für den Kreml stand weiter die deutsche Frage im Vordergrund, weshalb Österreich stärker in die gesamteuropäische Entspannungspolitik eingebunden und von der Bundesrepublik ferngehalten werden sollte. In diesem (sowjetischen) Neutralitätsverständnis sollte die Alpenrepublik eine Brücke zwischen Ost und West bilden und positiv für das bilaterale Verhältnis zwischen Moskau und Wien wirken. Für die Ballhausplatz-Diplomatie war - von der Öffentlichkeit kaum bemerkt - der Gestaltungsspielraum, den man in den Verhandlungen besaß, außergewöhnlich groß.
Ein echtes Glanzstück dieser Studie stellt das Teilkapitel zur Frage Helsinki-Effekt oder -Mythos dar, in dem Graf-Steiner den Forschungsstand ausgewogen darstellt, brillant diskutiert und letztlich eine Position der Mitte einnimmt, zumal es davon abhängt, ob Maßstäbe der kurz-, mittel- oder langfristigen Wirkungen der Schlussakte angelegt werden. Zweifelsohne gab es Impulse für Dissidenten-Bewegungen und Helsinki-Gruppen, während jedoch die repressiven Ein-Parteien-Diktaturen erbarmungslos zuschlugen. Der Faktor Gorbatschow wurde erst später ausschlaggebend dafür, dass es zu einem Durchbruch bei der Nachfolgekonferenz in Wien 1988/89 kam. In diesem Zusammenhang lautet eine der entscheidenden Thesen von Graf-Steiner, dass Helsinki "nicht der Ausgangspunkt für Veränderungen im humanitären Bereich im Ostblock" gewesen, "aber zum Bezugspunkt für alle jene" avanciert sei, "die sich für eine Umsetzung elementarer humanitärer und menschenrechtlicher Forderungen einsetzten und in der Schlussakte ein Instrument sahen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen" (247). Paternalismus erkennt Graf-Steiner im Narrativ, das den Westen zum wesentlichen Akteur in diesem Prozess stilisiere und ihn damit überbewerte. Zutreffend wird auch von einem vierten Korb gesprochen, wenn der Prozesscharakter der KSZE von der Autorin hervorgehoben wird, der sich vor allem in den Nachfolgekonferenzen zeigte.
Die Verfasserin knüpft die Hoffnung an ihre Studie, dass diese auch Impulse "für die aktuellen Diskussionen zur Rolle von Neutralität im Rahmen einer neu zu verhandelnden europäischen Sicherheitsstruktur im Ost-West-Konflikt" (12) setzen kann. Das bleibt nur zu wünschen, es liegt aber auch an den wenigen noch übriggebliebenen Neutralen in Europa selbst, ihre Politik wieder zu aktivieren.
Anna Graf-Steiner: Brückenbauer im Kalten Krieg. Österreich und der lange Weg zur KSZE-Schlussakte (= Kriegsfolgenforschung; Bd. 33), Graz: Leykam Buchverlag 2023, 291 S., ISBN 978-3-7011-0501-4, EUR 38,00
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