Andris Levāns / Ilgvars Misāns / Gustavs Strenga (Hgg.): Das mittelalterliche Livland und sein historisches Erbe. Medieval Livonia and Its Historical Legacy (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; 41/1), Marburg: Herder-Institut 2022, VII + 225 S., 5 Farb-Abb., ISBN 978-3-87969-471-6, EUR 36,00
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Cordelia Heß / Gustavs Strenga (eds.): Doing Memory. Medieval Saints and Heroes and Their Afterlives in the Baltic Sea Region (19th-20th Centuries), Berlin: De Gruyter 2024
Norbert Angermann / Ilgvars Misāns (Hgg.): Wolter von Plettenberg und das mittelalterliche Livland, Lüneburg: Nordostdeutsches Kulturwerk 2001
Lars Kjaer / Gustavs Strenga (eds.): Gift-Giving and Materiality in Europe, 1300-1600. Gifts as Objects, London: Bloomsbury 2022
Der zweisprachige Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer Tagung zum mittelalterlichen Erbe Livlands, die im Rahmen einer Veranstaltungsreihe anlässlich der 100-Jahr-Feier der Staatsgründung Lettlands zwischen Herbst 2017 und Frühjahr 2019 durchgeführt wurde. Während die Beiträge dieser und vier weiterer Konferenzen bereits in lettischer Sprache erschienen sind, wurde nun zum Zweck der internationalen Zugänglichkeit - in Kooperation der Lettischen Nationalbibliothek sowie dem Herder-Institut Marburg - mit der Herausgabe der Texte in englischer und deutscher Sprache begonnen.
Bereits das Inhaltsverzeichnis verrät, dass die 14 Texte zusammen keinen "klassischen" Tagungsband ergeben: Auf einen ersten Abschnitt zu Livland in der lokalen und übergreifenden Betrachtung (11-125) folgend wird drei jüngeren Forscherinnen und Forschern Raum für die Präsentation ihrer Abschlussarbeiten gegeben (129-175), worauf abschließend die Rezeption des mittelalterlichen Livland im 21. Jahrhundert in vier Essays kritisch reflektiert wird (179-213). In diesem Aufbau spiegelt sich das wider, was die Herausgeber Andris Levāns, Ilgvars Misāns und Gustavs Strenga auch in ihrer Einführung skizzieren: Der Band sei ein Symptom der aktuellen internationalen Betrachtung des mittelalterlichen Livland, die sich als Reaktion auf die im 19. und 20. Jahrhundert national geprägte Geschichtsschreibung etabliert habe. Nationale Narrative seien jedoch weiterhin in den baltischen Ländern präsent, sodass das Buch allenfalls als Impulsgeber dienen könne, um in Zukunft "die Geschichte Livlands als einen Teil der Geschichte des Ostseeraums" (3) wahrzunehmen und staatliche Verengungen aufzubrechen.
Folgerichtig ordnet Matthias Thumser die Region im Anschluss in einen gesamteuropäischen Kontext ein, wobei er die Bedeutung norddeutscher Einwanderer, die er über ihre mittelniederdeutsche Sprachnutzung, nicht über Ethnizität definiert, für die Entwicklung des livländischen Raumes andiskutiert. Bisherige Beschreibungen Livlands als community, association, union oder politisches System würden allerdings nicht dessen Vielfalt im Mittelalter adäquat widerspiegeln. [1] Kurt Villads Jensen arbeitet daraufhin vergleichend Kernaspekte der Christianisierung in Skandinavien, Norddeutschland und Livland im Hoch- und Spätmittelalter heraus. Während im skandinavischen Raum der Prozess langwierig und von individuellen Missionaren geprägt war, wurde der baltische Raum rascher sowie maßgeblich durch militärische Gewaltausübung christianisiert.
Ebenfalls aus skandinavischer und hansischer Perspektive nähert sich Carsten Jahnke der Region. Mithilfe von Fernand Braudels Konzept unterscheidet er eine "longue durée und mehrere Phasen einer moyenne durée" (44), um etwa "die Rolle Livlands als Verbindungsglied zwischen der Rus und Litauen sowie dem westlichen Ostseeraum" (65) hervorzuheben. Roman Czaja versucht sich in seinem Aufsatz mittels eines multiperspektivischen Zugangs an einer Verortung Livlands innerhalb des südlichen Ostseeraumnetzwerks zwischen 1237 und 1525. Anschließend nähert sich Ilgvars Misāns den Einheimischen und ihrer Rolle innerhalb der "Westernisierung" Livlands aus einer soziologischen Perspektive, unter anderem am Beispiel Rigas.
Ähnlich wie Matthias Thumser betont er, dass Ausgrenzung in seinem Betrachtungszeitraum nicht auf Basis von Ethnizität, sondern aufgrund von Sprache bzw. sozialer Zugehörigkeit erfolgt sei. Anti Selart weist in seinem Text nach, dass seit den 1990er Jahren in den russischen Medien sowie der Forschung bewusst ein negatives Bild Livlands respektive des livländischen Ordenszweiges gezeichnet wurde. Modernere Erinnerungsorte - zum Beispiel die Festivitäten anlässlich des 800. Geburtstags von Aleksandr Nevskij (2021) - seien demnach "moderne politische Demonstrationen" (122).
Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes stellt Mihkel Mäesalu zunächst zentrale Aspekte seiner 2017 erschienen Dissertation zum Verhältnis des Kaisers zu den livländischen Landesherren im Zeitraum 1199 bis 1486 vor. Darauf präsentiert Rūta Brusbārde ihr personengeschichtliches Dissertationsvorhaben zu den 89 Ratsherren der Stadt Riga im Zeitraum 1415 bis 1470, deren Agieren und Reagieren zwischen dem Erzbischof sowie dem Meister des dortigen Ordenszweiges lavierte. Ebenso mit einem Fokus auf Riga widmet sich Jaron Sternheim dem dortigen Erzbistumsstreit zwischen 1480 und 1483.
Den letzten Teil der Konferenzschrift bilden, wie zuvor erwähnt, vier Essays: Gustav Strenga beginnt mit einem Blick auf die Bedeutung des livländischen Mittelalters zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Bezugnehmend auf "Dreaming of the Middle Ages" [2] von Umberto Eco und dessen Postulat einer Rückkehr dieser Epoche führt er den übergreifenden Gedanken der vorangegangenen Aufsätze fort, wonach die moderne Wahrnehmung bzw. Deutung der Vergangenheit, insbesondere in ehemals sozialistischen Diktaturen, nach wie vor durch eine nationale Perspektive geprägt sei. Ebenfalls mit den Lesarten des Mittelalters als Grundlage der modernen Gesellschaften eröffnet Eva Eihmane ihren Text zu Livland und Lettland im 21. Jahrhundert, wo sich eine immense Diskrepanz im Hinblick darauf zeige, wie einerseits Historikerinnen und Historiker sowie andererseits die Öffentlichkeit die eigene Vergangenheit beurteilten. Da die lettische Vergangenheit häufig als Geschichte von "Auswärtigen" erzählt wurde respektive wird, mangle es an einer emotionalen Verbindung zwischen der Gesellschaft und dem mittelalterlichen Livland. Zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis kommt Juhan Kreem in seinem Essay zu Estland, da auch dort Livland im Mittelalter wenig bis gar nicht rezipiert werde und wenn Ereignisse - wie die "St. George's Night Uprising" (1343) - im Mittelpunkt ständen, diese als Kumulationspunkte des Gegensatzes zwischen Deutschen und Einheimischen zu gelten hätten. Nach diesen nationalen Perspektiven beschließt Jan Rüdiger den Band mit einer globaleren Verortung der Bedeutung Livlands. Es folgt abschließend ein Orts-, Personen- sowie Autorinnen- und Autorenverzeichnis.
In Summe markiert der vorliegende Sammelband eine weitere Wegmarke im Prozess der internationalen Öffnung des Baltikums als Forschungsgegenstand - ein Trend, der sich schon seit einigen Jahren abzeichnet. Gleichzeitig ist er inhaltlich aufgrund der Auseinandersetzung mit der politischen und gesellschaftlichen Vereinnahmung der Vergangenheit überaus aktuell. Gerade durch die Essays erhält er insgesamt einen äußerst appellatorischen Charakter, der für einen Tagungsband sicherlich ungewohnt, aber angesichts der Gesamtthematik an den meisten Stellen angemessen ist. Diese Mischung aus klassischen Aufsätzen, Projektvorstellungen sowie Diskussionsbeiträgen verleiht dem Buch zweifellos eine abwechslungsreiche Lesedynamik, die die Region des mittelalterlichen Livland in einer personellen Breite und zeitlichen Wirkmächtigkeit abbildet, doch führt diese teils starke Heterogenität der Beiträge auch dazu, dass der Band in sich nicht kohärent wirkt. Ein klareres inhaltliches Gesamtprofil der Thematik wäre wünschenswert gewesen. Das von den Herausgebern angestrebte Ziel der Texte als Impulsgeber scheint dennoch am Ende eingelöst.
Anmerkungen:
[1] Zuvor veröffentlicht: Martin Thumser: Das Baltikum im Mittelalter. Strukturen einer europäischen Geschichtsregion, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 58 (2011), 17-30.
[2] Umberto Eco: Dreaming of the Middle Ages. In: Ders.: Travels in Hyperreality. Essays, London 1987, 6172.
Laura Potzuweit