Hannah Pollin-Galay: Occupied Words. What the Holocaust Did to Yiddish, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2024, VIII + 302 S., ISBN 978-1-5128-2590-9, USD 44,95
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Das Verfassen eines Wörterbuchs ist eine eher ungewöhnliche Reaktion auf eine Katastrophe. Aber wie Hannah Pollin-Galay in ihrem Buch zeigt, hatte diese Praxis einen großen Stellenwert, um die sprachlichen Spuren der Verfolgung europäischer Juden zu bewahren und ihre Bedeutung für künftige Generationen zu erhalten. Pollin-Galay stellt fest, dass 85 Prozent der Juden, die im Holocaust ums Leben kamen, Jiddisch sprachen. Die Vernichtung der Juden vollzog sich auf vielen Ebenen - auch auf denjenigen der Kultur und Sprache. Aus diesem Grund ist das im Jahr 1944 von Rafał Lemkin vorgeschlagene Konzept Genozid für den theoretischen Rahmen des Buches zentral. Pollin-Galay erörtert dieses Konzept zu Beginn und am Schluss ihrer Studie im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Plänen zur Zerstörung der jüdischen Kultur. Jiddisch, das im Zweiten Weltkrieg beinahe ausgestorben war, war stark geprägt durch das dramatische Schicksal derjenigen, die es noch sprachen. Neue, tragische Umstände hinterließen Spuren im Jiddischen und bereicherten es um neue Wörter und Bedeutungsnuancen. Dieser spezifische Soziolekt, den Pollin-Galay Khurbn-Yiddish nennt, und die Nachkriegsbemühungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ihn als Beleg einer weiteren Dimension der NS-Verbrechen zu katalogisieren, stehen im Zentrum des Buches "Occupied Words". Die Autorin untersucht Khurbn-Yiddish auf mehreren Ebenen: Sie erklärt die frühe Yiddish-Forschung (Teil I), zeigt spezifische lexikalische Beispiele (Teil II) und beleuchtet die Nachwirkungen des Khurbn-Yiddish in der Nachkriegsliteratur - einschließlich der Memoiren von Überlebenden - und in jiddischer Poesie (Teil III). Alle Teile sind aufeinander bezogen, so dass die Lektüre wenig Mühe macht und die Argumentation der Autorin klar verständlich wird.
Im ersten Teil "Thinking and Living the Khurbn Yiddish Dictionary", befasst sich Pollin-Galay mit den drei Yiddish-Forschern Nachman Blumental, Elye Spivak und Israel Kaplan. Sie stellt nicht nur die Arbeit jedes Einzelnen am Khurbn-Yiddish-Wörterbuch vor, sondern erklärt vor allem die individuellen biografischen Umstände, die zu der spezifischen Herangehensweise an Khurbn-Yiddish beigetragen haben. Im Fall von Nachman Blumental hebt sie seinen Status hervor, der ihm den Zugang zu Lagern der Displaced Persons ermöglichte und so das Sammeln von Material vor Ort erlaubte. Elye Spivak hingegen, dessen Arbeit unter dem politischen Einfluss des kommunistischen Regimes stand, war auf Forschungen im sowjetischen Raum beschränkt und konnte die Ergebnisse von Projekten zur Dokumentation der Ghetto-Sprache in Warschau und Łódź nicht kennen. Den letzten Enzyklopädisten nennt Pollin-Galay "a native speaker of Khurbn-Yiddish". (74) Durch die wissenschaftliche Arbeit Israel Kaplans, eines ehemaligen Häftlings mehrerer Lager in Lettland, Litauen, Polen und Deutschland, untersucht die Autorin Kausalzusammenhänge und fragt danach, wie Khurbn-Yiddish die Wahrnehmung und Beschreibung der Realität beeinflusst hat.
Im zweiten Teil "A Short Study of Words That Mean Too Much" konzentriert sich die Autorin auf drei spezifische Kategorien von Wörtern in Khurbn-Yiddish: Diebstahl, Sexualität und deutsch-jiddische Hybride. Pollin-Galay untersucht nicht nur die Herkunft der Begriffe, sondern erklärt auch, wie sich ihre Konnotationen und Bedeutungen im Zweiten Weltkrieg veränderten und welchen Kontext ihre Verwendung hatte. Im Fall von Wörtern im Zusammenhang mit Diebstahl, etwa organizirn, erhält dieses eine neue Bedeutung im Hinblick auf Überleben, häufig verbunden mit moralisch ambivalentem Handeln. Organizin steht demnach für Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt - einen illegalen Weg, um Güter, insbesondere Lebensmittel, zu beschaffen.
Der letzte Teil des Buches behandelt, wie Khurbn-Yiddish in neuen Kontexten der Nachkriegszeit präsent wurde, also außerhalb der Umstände, in denen es entstanden war. Pollin-Galay untersucht Werke von Ka-Tzetnik (Yehiel De-Nur) und Chava Rosenfarb, um ein breites Spektrum literarischer Beispiele zu präsentieren. Sie verbindet geschickt Zeugnisse, Poesie und Prosa. Dabei geht sie nicht in jedes Werk detailliert ein, sondern baut ihre Argumentation und ihre Schlussfolgerungen ohne überlange Analysen nachvollziehbar auf.
Pollin-Galays Buch beschreibt das Phänomen des Soziolekts Khurbn-Yiddish umfassend und vermisst das Feld für interdisziplinäre Forschungen, die Methoden aus der Soziologie und der Sprachwissenschaft integrieren. "Occupied Words" wird auf breites Interesse stoßen: von Studierenden der Geschichts-, Sozial- und Literaturwissenschaften über Holocaust-Forscherinnen und -Forscher bis hin zu etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen und historisch Interessierten. Das Buch von Pollin-Galay beleuchtet eindrucksvoll die kulturelle Dimension des Holocaust. Die Autorin zeigt die Lebendigkeit von Sprache und ihre Reaktion auf soziopolitische Ereignisse. So wie sich Jiddisch nach dem Ersten Weltkrieg weiterentwickelte, spiegelt sich auch heute im Sprachgebrauch die Unsicherheit und Krisenerfahrung unserer Zeit wider.
Izabela Paszko