Rezension über:

Christoph Witzenrath: The Russian Empire, Slaving and Liberation, 1480-1725. Trans-Cultural Worldviews in Eurasia (= Dependency and Slavery Studies; Vol. 4), Berlin: De Gruyter 2022, 301 S., ISBN 978-3-11-069641-7, EUR 84,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ricarda Vulpius
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Ricarda Vulpius: Rezension von: Christoph Witzenrath: The Russian Empire, Slaving and Liberation, 1480-1725. Trans-Cultural Worldviews in Eurasia, Berlin: De Gruyter 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37725.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christoph Witzenrath: The Russian Empire, Slaving and Liberation, 1480-1725

Textgröße: A A A

Die Eroberung der Halbinsel Krim durch Zarin Katharina II. markierte im kollektiven Bewusstsein der Russen eine Zäsur. Mit dem Sieg über das letzte Chanat der Nachfahren der Tatar-Mongolen konnte die Zarenregierung der jahrhundertealten krimtatarischen Tradition von Raubzügen und der damit einhergehenden Versklavung der Bevölkerung im Süden und Südosten des Zarenreiches ein Ende setzen. Es ist bekannt, welcher Schrecken von diesen stetigen Überfällen vom 15. bis ins 18. Jahrhundert für das Moskauer Reich ausging. Tatsächlich belegt Osteuropa (vom Kaukasus bis Polen) zwischen den 1470er Jahren und 1700 mit rund 2,5 Millionen versklavten Menschen weltweit nach der afrikanischen Subsahara-Region den zweiten Platz unter den Herkunftsorten versklavter Menschen. Auch die russländischen Bemühungen, den Versklavungs- und Zerstörungsfeldzügen durch den Bau von ausgedehnten Festungslinien Einhalt zu gebieten, fanden in der Forschung Beachtung. [1] Bisher nicht untersucht war jedoch die Frage, welche Bedeutung die Versklavung eines derartig großen Anteils der eigenen Bevölkerung einerseits und die Bemühungen um die Befreiung der Sklaven andererseits für die politische Kultur und das Selbstverständnis des Moskauer Reiches hatten.

Christoph Witzenrath hat mit seiner Monographie zu "Sklaverei und Befreiung" im Russländischen Reich diese Lücke eindrucksvoll geschlossen. Sein Buch zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es sich bemüht, große Bögen über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg zu schlagen (auch wenn der Schwerpunkt im 16. Jahrhundert liegt). Vor allem bettet er seine Erkenntnisse über Moskowiter Narrative und Wahrnehmungen eng in jene des eurasischen Raums ein, entdeckt Verbindungen zu Narrativen der turksprachigen transosmanischen Kultur und steigt tief in die Verzahnung des Moskowiter Weltbildes mit biblischen Topoi ein. Seine Kernthese ist es, dass das Narrativ, die eigenen Untertanen vor der Versklavung zu schützen oder sie aus der Sklaverei zu befreien, so konstitutiv für die Moskauer Weltanschauung war, dass sich daraus ein zusammenhängendes imperiales Selbstverständnis entwickelte. Mit dieser Argumentation stellt Witzenrath die Auffassung in Frage, wonach sich erst unter Zar Peter I. eine vollständige imperiale Weltsicht herausgebildet habe.

Witzenrath entfaltet seine Gedanken in sechs aufeinander aufbauenden Kapiteln. Auf eine sehr kompliziert geschriebene Einführung, die auch Moskowiens Verhältnis zur Steppe und dasjenige des Islams zur Sklaverei in Eurasien skizziert, stellt der Autor im ersten Kapitel das Konzept von Versklavungszonen von Jeffrey Fynn-Paul vor, bevor er sein eigenes Modell einer "Moskowiter Gegenabhängigkeitszone" entwickelt. Mit dieser Bezeichnung will Witzenrath das Phänomen beschreiben, wonach das Moskauer Reich zwar einerseits seit den 1360er Jahren sukzessive "Nicht-Versklavungszonen" einführte, die es gegen die Heimsuchungen der Steppennomaden abzuschirmen suchte, andererseits aber die Moskauer Großfürsten und Zaren im Inneren des Reiches die Leibeigenschaft einführten und damit ihrerseits eigene asymmetrische Abhängigkeiten schufen, die es - so Witzenrath - nicht erlauben von einer sklavenfreien Zone zu sprechen.

Das zweite und längste Kapitel geht der Frage nach, wie das Narrativ von der Befreiung aus der Sklaverei in Moskowien entstanden ist. Witzenrath kann anhand einer sorgfältigen Analyse einschlägiger Quellen, insbesondere der "Chronik des Anfangs des Zarentums" aus den 1550er Jahren, nachweisen, dass es aufs Engste mit der Eroberung von Kazan 1552 verwoben ist. Unter Einbeziehung des in der Forschung bereits herausgearbeiteten Selbstbildes vom "Neuen Israel" wurde die Befreiung orthodoxer Christen aus der Kazaner Sklaverei in eine Analogie zur Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft gesetzt, was dazu diente, der Eroberung moralische Legitimität zu verleihen.

Im dritten und vierten Kapitel versucht Witzenrath nachzuweisen, dass die skizzierte Moskowiter Weltsicht auch jenseits der schmalen Elite in der Bevölkerung verbreitet war. Mit Hilfe von Heiligenviten, Wandmalereien im Kreml, dem klerikalen Theater und der Analyse von kirchlichen Ritualen gelingt es ihm, seine These von der großen Bedeutung des Befreiungsnarrativs zu unterstreichen. Wie er jedoch selbst einräumt, bleibt fraglich, inwieweit von einer breiten Rezeption in der Bevölkerung ausgegangen werden kann. Wohl aber kann er im fünften Kapitel untermauern, dass nicht wenige der zurückkehrenden Sklaven selbst auf das religiös gekleidete Befreiungsnarrativ rekurrierten. Mit dem Blickwinkel auf die einstigen Verschleppten arbeitet Witzenrath anhand einiger Petitionen der Rückkehrer heraus, dass der Loskauf mit dem religiös aufgeladenen Erlösungsgedanken verknüpft und dazu genutzt wurde, um diskursiv die Position des Zaren zu erhöhen.

Das sechste und letzte Kapitel zielt darauf, die erlangten Befunde in die Imperienforschung einzuordnen und die Frage zu beantworten, wie mit den christlich interpretierten Topoi von Sklaverei und Befreiung in einem multireligiösen Imperium umgegangen wurde. In eindrucksvollen Ausführungen zum transimperialen Kommunikationsaustausch im eurasischen Raum weist Witzenrath nach, dass zentrale zeitgenössische Vorstellungen der politischen Kultur, wie Ehre und die Weisheit des Zaren, nicht nur im russisch-orthodoxen, sondern auch im muslimischen Kontext mit dem Motiv der Befreiung verzahnt wurden. Witzenrath geht so weit zu behaupten, dass sich die imperiale Elite bewusst jener Ethnien-, Kulturen- und Religionen-übergreifenden Narrative bediente, um die Loyalität der religiös heterogenen Bevölkerung zu stärken.

Auch wenn der Text sehr voraussetzungsreich geschrieben ist, viele Passagen überladen wirken und sich der Rezensentin bis zum Ende nicht erschloss, warum auf das mühsame Konzept der "Gegenabhängigkeitszone" nicht verzichtet wurde, kann die quellengesättigte Argumentation von der hohen Bedeutung, die die Topoi der Sklaverei und der Befreiung für das Selbstverständnis des Moskauer Reiches einnahmen, rundum überzeugen. Auch beeindruckt die Verzahnung von Ideen-, Sozial- und Begriffsgeschichte.

Zweifelhaft erscheint hingegen der weitergehende Anspruch, mit den Ausführungen bewiesen zu haben, dass nicht erst unter Peter I., sondern bereits im 16. Jahrhundert eine zusammenhängende imperiale Weltsicht entwickelt worden sei. Hier holt Witzenrath ein, dass er an keiner Stelle darlegt, was er unter "imperial" und "Imperium" versteht. Expansionsdrang und integrativ gestaltete Narrative, mit denen die Expansion religionsübergreifend legitimiert wird, um die Loyalität von Christen wie Muslimen gegenüber dem Zaren zu stärken, sind noch keine hinreichenden Kriterien für ein imperiales Selbstverständnis. Dies könnten auch Kennzeichen eines Einheitsstaates sein. Von einem Selbstverständnis eines Imperiums, das über einen de-facto-Charakter der Multiethnizität und Multireligiösität hinausgeht, kann jedoch erst dann die Rede sein, und dies ist der entscheidende Unterschied zur tatsächlichen "Geburt" des Imperiums im 18. Jahrhundert, wenn eine Metropole innerhalb des von ihr beherrschten Reiches verschiedene nicht-metropolitane Gruppen wahrnimmt, diese unterschiedlich bewertet und in Form von abgestuften Hierarchien und unter Wahrung von Differenzen zwischen den Gruppen über diese herrscht. Im Moskauer de-facto-Imperium hingegen waren die Untertanen in ihrer Beziehung zum Herrscher im Sinne des Patrimonialstaates noch einander weitgehend gleichgestellt.

Dieser Einwand mindert jedoch nicht die große Leistung, ein hochkomplexes, kaum erforschtes Thema theoriegeleitet und quellengesättigt analysiert und in einem transimperialen und verflechtungsgeschichtlichen Kontext aufbereitet zu haben. Das Buch darf künftig in keinem Bücherregal zur Imperiumsgeschichte des Moskauer Reiches fehlen.


Anmerkung:

[1] John LeDonne: Forging a Unitary State: Russia's Management of the Eurasian Space, 1650-1850, Toronto 2020.

Ricarda Vulpius