Rezension über:

Agilolf Keßelring: Die Bundeswehr auf dem Balkan. Zwischen Krieg und Friedenseinsatz (= Bundeswehr im Einsatz; Bd. 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 386 S., 8 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-35222-9 , EUR 45,00
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Rezension von:
Marie-Janine Calic
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Marie-Janine Calic: Rezension von: Agilolf Keßelring: Die Bundeswehr auf dem Balkan. Zwischen Krieg und Friedenseinsatz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38034.html


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Agilolf Keßelring: Die Bundeswehr auf dem Balkan

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Im ehemaligen Jugoslawien unternahm die Bundeswehr in den 1990er Jahren ihren ersten Kriegseinsatz "out of area". Seitdem hat sie dort in mehr als 30 Jahren an 25 verschiedenen multinationalen Operationen zu Lande, zu Wasser und in der Luft mitgewirkt. Der Autor, Oberstleutnant d. R. und Privatdozent in Helsinki, hat den Einsätzen nun erstmals eine umfangreiche Darstellung gewidmet. Im Zentrum steht das deutsche Engagement in Bosnien-Herzegowina. Es geht um die Frage, ob die Bundeswehr auf dem Balkan zu einer Kriegspartei geworden ist.

Der vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegebene Band folgt dem Ansatz einer militärischen Zeitgeschichte. Der Autor unternimmt es demnach, die Einsatzgeschichte aus deutscher Perspektive in größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge einzubetten. So betrachtet er unter anderem das Zusammenwirken der Bundeswehr mit multinationalen Akteuren wie der NATO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, den völkerrechtlichen Kontext sowie verschiedene innenpolitische Debatten. Dazu verwendet er überwiegend publizierte Quellen und Akteneditionen, Presseartikel sowie eine Auswahl von Selbstzeugnissen maßgeblicher Akteure.

Das Buch beginnt mit einer recht ausführlichen Einleitung zu Ansatz und Methode der "Zeitgeschichte militärischer Friedensoperationen". Dem folgt eine längere Abhandlung über den Jugoslawienkrieg und die Reaktionen der Internationalen Gemeinschaft. Das Kapitel fächert eine Vielzahl von Themen und Details auf; nicht immer ist allerdings der Bezug zum eigentlichen Forschungsgegenstand Bundeswehr erkennbar. Auch ist die Literatur nicht immer auf neuerem wissenschaftlichem Stand. Zudem gibt es kleinere Fehler, zum Beispiel legte sich das International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia der Vereinten Nationen gerade nicht auf einen "inter state war" fest (33), sondern eine Mischung aus zwischenstaatlichem und Bürgerkrieg; der deutsche Diplomat hieß Jürgen Chrobog, nicht Chroborg (234) und so weiter.

Nach gut hundert faktenreichen Seiten kommt der erste Bundeswehreinsatz in den Blick. Im Zuge der Luftbrücke des Flüchtlingskommissars der vereinten Nationen nach Sarajevo wurde die Bundeswehr im Juli 1992 erstmals im Kriegsgebiet, und zwar zu rein humanitären Zwecken, eingesetzt. Bald darauf beteiligte sich die Bundeswehr zudem an der von der NATO durchgeführten Überwachung des Seeverkehrs in der Adria sowie an der Flugverbotszone im Luftraum über Bosnien-Herzegowina. Als das Friedensabkommen von Dayton 1995 den Krieg beendete, wurden deutsche Soldaten zur Implementation Force (IFOR) beziehungsweise deren Folgemission Stabilisation Force (SFOR) entsandt, also den zur Absicherung des Friedens eingesetzten Friedenstruppen unter Führung der Nordatlantischen Allianz.

Das Buch schließt mit der Feststellung, dass Deutschland mit dem SFOR-Einsatz in Bosnien-Herzegowina erstmals als gleichberechtigte militärische Macht unter den NATO-Partnern agieren konnte. Dies bedeutete zugleich auch eine zunehmende "Verortung deutscher Sicherheitspolitik außerhalb der NATO" (325). Die eingangs gestellte Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland zu einer kriegführenden Interventionsmacht geworden sei, wird teilweise bejaht. Die Bundeswehr wurde im Sommer 1995 in Bosnien-Herzegowina und im Frühjahr 1999 zur Kriegsteilnehmerin, die übrige Zeit aber handelte es sich laut Autor um "less than war" (326).

Das Buch liefert viele interessante Einblicke in die Rolle der Bundeswehr, allerdings gehen diese zuweilen in der Fülle des Materials unter. Die Betrachtung der Einsätze im engeren Sinn macht nur etwa ein Viertel des knapp vierhundertseitigen Werkes aus. Darin befindet sich auch ein aufschlussreicher Abschnitt über "Gefahren und Belastungen im Balkan-Einsatz", der die hohe Suizidrate der Soldaten im Einsatz thematisiert. Den Zusammenhang zwischen den Vorgängen vor Ort, verschiedenen Einsatzoptionen, militärischen Entscheidungsprozessen und den deutschen Debatten herzustellen, ist jedoch nicht immer überzeugend geglückt. So werden zum Beispiel erst die Einsätze in Bosnien-Herzegowina in chronologischer Folge dargestellt und daraufhin die völkerrechtlichen Voraussetzungen und innenpolitischen Diskussionen erörtert, die diesen vorausgingen.

Das Buch schließt mit einem "Ausblick" über den Kosovokonflikt und Mazedonien, der aber recht kurz und überwiegend historisch ausgefallen ist. Das ist bedauerlich, weil hier der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr "out of area" ohne völkerrechtliches Mandat stattfand. Er bildete den eigentlichen Wendepunkt in der deutschen und globalen Debatte über "humanitäre Interventionen" und war wegweisend für den künftigen Einsatz der Bundeswehr in diversen Krisenländern. Nicht zuletzt hätte man gerne erfahren, wie der Autor die Balkan-Einsätze im Lichte der militärischen Zeitenwende des Ukrainekrieges in längerer historischer Perspektive beurteilt. Das Buch liefert freilich viele Ansatzpunkte, in dieser Richtung weiterzuforschen.

Marie-Janine Calic