Rezension über:

Christophe Chandezon / Julien du Bouchet (éds.): L'Onirocritique grecque. D'Artémidore à Foucault, Paris: Les Belles Lettres 2023, 460 S., ISBN 978-2-251-45433-7, EUR 55,00
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Rezension von:
Beat Näf
Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Beat Näf: Rezension von: Christophe Chandezon / Julien du Bouchet (éds.): L'Onirocritique grecque. D'Artémidore à Foucault, Paris: Les Belles Lettres 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/01/38247.html


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Christophe Chandezon / Julien du Bouchet (éds.): L'Onirocritique grecque

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Seit 2007 arbeitet eine Forschergruppe mit dem Namen Groupe Artémidore um Christophe Chandezon und Julien du Bouchet von der Universität Paul-Valéry in Montpellier an einer neuen kritischen und kommentierten Edition mit französischer Übersetzung von Artemidors Werk über die Traumdeutung, den Oneirokritika. Der Groupe Artémidore hat die editorische Arbeit von Anfang an mit interdisziplinärem Austausch an jährlichen Tagungen verknüpft. Daraus sind mehrere qualitätvolle Bände entstanden, nämlich 2012: Études sur l'Artémidore et l'interprétation des rêves (Nanterre: Presses Universitaires de Paris Ouest; nun auch online verfügbar), 2014: Artémidore de Daldis et l'interprétation des rêves. Quatorze Études (Collection L'Âne d'Or, Paris: Les Belles Lettres) und 2015 vom assoziierten Mitglied und Augsburger Althistoriker Gregor Weber herausgegeben: Artemidor von Daldis und die antike Traumdeutung. Texte - Kontexte - Lektüren (Colloquia Augustana 33, Berlin, Boston: De Gruyter, online verfügbar). Die neue Artemidorausgabe soll demnächst in drei Bänden zusammen mit einer kommentierten Übersetzung in der Collection des Universités de France der Association Guillaume Budé ("Collection Budé") erscheinen.

Für den griechischen Text benutzt man vorerst noch die Teubner-Ausgabe von Roger A. Pack (1963), obschon es textkritische Verbesserungen gibt. Mehrere Übersetzungen in moderne Sprachen sind erhältlich, zum Teil auch kombiniert mit dem griechischen Text. Deutsche Übersetzungen liegen von Karl Brackertz (1979) und Friedrich Salomon Krauss (1881, zuletzt überarbeitet von Gerhard Löwe 1991) vor. Die Buchausgaben sind vergriffen, der Text von Krauss ist in der Fassung von 1881 digital zugänglich. Zuletzt sind Artemidors Oneirokritika ins Englische übersetzt worden, nämlich von Daniel E. Harris-McCoy (Oxford 2012 mit griechischem Text und Kommentar) und von Martin Hammond (Oxfords World's Classics 2020) zusammen mit einer Einleitung von Peter Thonemann, der überdies Artemidor und sein Werk in einer eigenen Monographie (Oxford 2020) behandelt. Thonemann und Hammond datieren das Werk in eine spätere Zeit als bisher üblich, nämlich Ende 2. / Anfang 3. Jahrhundert.

Der vorliegende Band teilt sich in einen ersten Teil mit "Themen" zu Artemidor und einen zweiten Teil zu seiner "Rezeption". Gregor Weber gibt eine konzise Zusammenfassung und eine Auswertung.

Im ersten Teil behandelt Julien du Bouchet die Deutung der Divination durch Artemidor (vor allem die Passagen II 69 und III 20-21), Cristiana Franco die Interpretation der Träume mit Tieren, Jean-Manuel Roubineau die Auslegung von Traumbildern aus dem Sport, Christophe Chandezon den Umgang Artemidors mit der alltäglichen Ernährung, Anne-Valérie Pont das Verhältnis der Traumsymbole zu Besitz, Reichtum und Verfassung der Polis, Nicole Belayche das Verhältnis Artemidors zur Religion und Francis Prost die Behandlung von Statuen bei Artemidor.

Im Rezeptionsteil, der kürzer ist als der erste Teil, widmet sich Pierre Lory der arabischen Artemidorübersetzung des christlich-arabischen Gelehrten, Übersetzer, Arztes und nestorianischen Christen Hunayn ibn Ishâq al-ʿIbâdî (9. Jh.) und seinem weitgehend muslimischen Kontext, Jean-Marie-Flamand der Wiederentdeckung Artemidors in der Renaissance, Claire Gantet Manuskripten, Übersetzungen und ihrer Verwendung im deutschen Raum des 18. Jahrhunderts, Jacqueline Carroy einem erstaunliche nüchternen Traumbuch der Marie Curo (1855) aus dem katholischen Saint-Brieuc (Bretagne) und Christoph Pébarthe den wirkungsreichen und berühmten Deutungen Artemidors durch Michel Foucault. Der letzte Beitrag von John Scheid und Jesper Svenbro analysiert die Vorstellungswelt Artemidors im Kontext der strukturalen Anthropologie und der bedeutenden Forschungen von John Scheid und Jesper Svenro. Die Methoden seines Umganges mit Träumen und der damaligen Lebenswelt werden herausgearbeitet, vor allem im Hinblick auf religiöse Praktiken.

Gregors Webers Nachwort konnte offenbar auf diesen Beitrag nicht eingehen, vermutlich weil er ihm nicht vorgelegen hat. Das Nachwort bietet indes eigene Vorschläge und Gesamtdeutungen der Oneirokritika Artemidors, zum Teil auch im Hinblick auf künftige Forschungen. Gregor Weber ist einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet. Unter anderem empfiehlt er, darauf zu achten, wie bei der Arbeit der Deutung die Vermittlung zwischen der persönlichen Welt der Träumenden und den Vorstellungen erfolgt, welche ein Artemidor beispielsweise aus den philosophischen Schulen bezogen hat. Gewiss wären auch weitere Fokussierungen mit Hilfe von Charakterisierungen methodischer Vorgehensweisen der Deutenden von Träumen hilfreich und fruchtbar. Jedenfalls ist es möglich, die künstliche Trennung zwischen einem Teil I "Text und Themen" und II "Rezeption" mit solchen übergreifenden Konzepten zu überbrücken und die Welt Artemidors und ihre spätere Wahrnehmung dadurch zu erschliessen.

Der Begriff einer "griechischen Oneirokritik", wie es der Titel vorschlägt, reicht als übergreifendes analytisches Konzept eigentlich nicht aus. Rezeption und Artemidor-"themen" lassen sich nicht trennen und gehen weit über das "Griechische" und auch über Oneirokritik und Divination hinaus. Sie hängen zusammen, sind ineinander verwoben. Und "griechisch" sind sie nur insofern, als ein griechischer Text vorliegt, schon gar kein "klassisch" griechischer Text. Und wenn Artemidor "griechische" Spezialisten der "Oneirokritik" nennt, so tut er dies im Wettbewerb mit ihnen und um sie zu überbieten. Artemidor hat im Imperium Romanum und in der Städtewelt Kleinasiens mitten in der Konkurrenz von Rednern und Schriftstellern geschrieben, in einer multikulturellen Welt, in denen auch Traditionen des Alten Orients und Ägyptens nachwirkten und sich jüdische und christliche Intellektuelle mit ähnlichen Fragen beschäftigten. Wie all das zu analysieren und zu beschreiben ist, hat immer wieder fasziniert, auch im vorliegenden Band und bei seiner Lektüre. In den bisherigen Artemidorausgaben ist regelmäßig versucht worden, Antworten zu geben und zu berücksichtigen. So bedarf es der Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte, um sich zu orientieren. Eine Konzeption von Forschung, welche so, wie es der Groupe Artémidore gemacht hat, die Arbeit am Text mit Tagungen kombiniert, an denen die grundsätzlichen und übergreifenden Themen behandelt werden, schafft dafür jedenfalls gute Grundlagen. Von daher gehören die ertragreichen Tagungsbände mit zur künftigen Edition.

Beat Näf