Rezension über:

Hanns Jürgen Küsters: Kai-Uwe von Hassel. Aufstieg und Ministerpräsident 1913-1963 / Minister und Präsident 1963-1997, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2023, 2 Bde., 1800 S., 118 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-27673-8, EUR 138,00
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Rezension von:
Heiner Möllers
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Heiner Möllers: Rezension von: Hanns Jürgen Küsters: Kai-Uwe von Hassel. Aufstieg und Ministerpräsident 1913-1963 / Minister und Präsident 1963-1997, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38464.html


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Hanns Jürgen Küsters: Kai-Uwe von Hassel

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Dem heutzutage wohl weitgehend in Vergessenheit geratenen Kai-Uwe von Hassel widmet der Autor eine voluminöse Biographie, die bisher erschiene oberflächliche Werke [1] oder zu Unrecht wenig beachtete [2] ablösen dürfte. Er ordnet den Politiker und - (viel zu) weit darüber hinausgreifend - seine Familie in die Umstände der Zeit ein und schildert (über)ausführlich den Aufstieg eines ambitionierten Mannes, der sich früh für den in der jungen Bundesrepublik noch unbekannten Weg des Berufspolitikers entschied. Seine Herkunft aus dem protestantisch dominierten Landstrich nördlich der Elbe, sein Lebensalter, sein politischer Weg durch die Instanzen und seine Mitgliedschaft in der neu gegründeten Jungen Union der CDU, lassen ihn gegenüber den etablierten Politikern in der jungen Bundeshauptstadt Bonn als einen homo novus erscheinen.

Um es gleich an dieser Stelle einzukürzen: Von Hassel stammte aus durchaus bürgerlichen, aber wirtschaftlich nicht immer sicheren Verhältnissen, weil seine Vorfahren als Kaufleute mit Ambitionen in der deutschen Kolonie Ostafrika weit über ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und die politischen Verhältnisse der jeweiligen Zeit agiert hatten. In der Folge kam der junge Kai-Uwe von Hassel nach Schulbesuch, Studium und Kriegseinsatz nach Schleswig-Holstein zurück und musste sich erst in den neuen, beinahe armseligen Lebensverhältnissen zurechtfinden. Unterstützt durch erfahrene Wegbegleiter fand er den Weg in die Politik und stieg schnell auf, weil er als Persönlichkeit pragmatisch, ausgleichend und konziliant auftrat. Er bekleidete CDU-Parteiämtern und wurde 1954 Ministerpräsident des nördlichsten Bundeslandes.

Für den Rezensenten ist indes seine Zeit als Bundesverteidigungsminister von 1962 bis 1966 bedeutsam (Bd. 2, 7-382), aus mehrerlei Gründen: Hassel betrat nun die große politische Bühne, die weit über Bonn hinausreichte, musste sich mit unangenehmen Themen befassen (z.B. Vorstellungen über die Atomkriegsführung) und fand sich im Haifischbecken überbordender Ministerialbürokratie wieder, das insbesondere auf der Bonner Hardthöhe durch den Dauerstreit zwischen Militärs und Beamten um die Vormacht im Haus geprägt war. Die bereits vielfach beschriebene Starfighter-Krise der Jahre 1965/66 steht pars pro toto für von Hassels Fehleinschätzungen von seinem Amt: Das eigentliche Problem, die Überbürokratisierung des Ministeriums, erkannte er wenig, und versuchte mit "taktischen Winkelzügen" (339) Lösungen zu erzielen, die bislang vor allem am ungeklärten Verhältnis der zivilen zu den militärischen Abteilungsleitern im BMVg gescheitert waren. Dass der "geistig schlichte" von Hassel (so ein Beitrag in der Tageszeitung Die Welt, 340) den Gesamtzusammenhang zwischen Bundeswehr, Außenpolitik und NATO-Policy kaum verstand und die Federführung in diesem Themenfeld dem Auswärtigen Amt überließ, schwächte seine Position im eigenen Haus; vor allem auch, da auflagenstarke Zeitungen und Magazine, wie z.B. DER SPIEGEL, die Militär-, Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland in der NATO kritisch hinterfragten. Im Krisenmanagement um den Starfighter verschlissen, sich zu keiner tragfähigen Lösung durchringen könnend, verbrauchte von Hassel erst einen Generalinspekteur (General Heinz Trettner) und den Inspekteur der Luftwaffe (Generalleutnant Werner Panitzki), bevor er vom Nachfolger des Letzteren (Generalleutnant Johannes Steinhoff) bis zum Abschied von der Hardthöhe faktisch vorgeführt wurde. Möglich war das auch, weil Hassel zuvor eben nicht mit harter Hand regiert und zu oft die politische Verantwortung verdrängt hatte. Da half es auch nicht, dass als Nachfolger Trettners der geschmeidige Ulrich de Maizière ins Amt kam. Viel schwerer wog, dass das von Hassel mehrmals angekündigte Organisationsgesetz für das Bundesverteidigungsministerium nie über einen Entwurf hinauskam. Der Konflikt zwischen Zivilisten und Militärs wurde von ihm nicht nur nicht gelöst, sondern faktisch nie verstanden. Es ist bemerkenswert, dass erst der von Hassels Nachnachfolger Helmut Schmidt 1971 unterzeichnete Blankeneser Erlass die Rolle und Befugnisse der militärischen Führung definierte. Ebenso bemerkenswert ist, dass alle bisherige Forschung zur Bundeswehr die Rolle des (jeweils einzigen beamteten) Staatssekretärs (und Ministervertreters) im BMVg bis 1969 nicht erfasst hat! Dass General Steinhoff Sondervollmachten durchsetzen konnte, zeigt die Schwäche des Ministers im eigenen Apparat auf: Er musste nachgeben, damit wenigstens der Anschein gewahrt blieb, er allein würde entscheiden - und qualifizierte Persönlichkeiten dürften mit Kompetenzen und Befugnissen darunter agieren. (374-377) Tatsächlich hatte von Hassel einen medial ausgeschlachteten und dazu von Steinhoff gegenüber ausgewählten Journalisten sauber soufflierten Streit verloren. Er war nur noch Minister auf Abruf.

Dass von Hassel im Zuge der Großen Koalition Bundesminister für Vertriebene wurde, war ein Abstieg. Er besaß beim Koalitionspartner SPD keinerlei Rückhalt, und seine Wahl zum Bundestagspräsidenten nach der Bundestagswahl 1969 war allein dem Umstand geschuldet, dass die CDU/CSU noch die größte Fraktion im Bundestag stellte. In den Folgejahren wurde er in der Union im Zweikampf zwischen Rainer Barzel und Helmut Kohl zerrieben, obschon es genügend Pöstchen gab, die er ausfüllen durfte. Die vom Autor umfassend beschriebenen Tätigkeiten innerhalb der Partei belegen, dass von Hassel zwar mitmischte, aber wenig entscheidenden Einfluss besaß.

Zum politischen Wirken von Hassels in seiner Partei, in Landes- und Bundespolitik sowie für Europa, auch zu seinem Lebensweg ist dieser detaillierten, überzeugend aus den Quellen gearbeiteten Biografie nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Angesichts ihrer weitreichenden Abstützungen auf die Quellen wird man sie ungeachtet der häufigen Nichtbeachtung der einschlägigen Literatur nicht umgehen können, wenn man sich der Person von Hassels annähern will oder muss. Der Umfang und die Einbeziehung aller möglicher Ereignisketten, Lebensumstände und Details sind dabei alles andere als handlich oder unumgänglich. Es hätte auch kürzer sein dürfen, denn Umfang allein ist mitnichten der selbstverständliche Ausweis für die Wichtigkeit eines Buches.


Anmerkungen:

[1] Vgl. die schnell gestrickte Darstellung von Volker Koop: Kai-Uwe von Hassel. Eine politische Biographie, Köln 2007.

[2] Vgl. zum Beispiel die von Hans Peter Schwarz betreute grundlegende Dissertation von Mark Speich: Kai-Uwe von Hassel. Eine politische Biographie. Univ., Diss., Bonn 2001, die aus ungeklärten Gründen nie einen Verlag gefunden hat.

Heiner Möllers