Rezension über:

Elsa Filosa: Boccaccio's Florence. Politics and People in His Life and Work, Toronto: University of Toronto Press 2022, IX + 337 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-1-4875-0580-6, USD 104,95
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Rezension von:
Volker Reinhardt
Université de Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Volker Reinhardt: Rezension von: Elsa Filosa: Boccaccio's Florence. Politics and People in His Life and Work, Toronto: University of Toronto Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/37941.html


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Elsa Filosa: Boccaccio's Florence

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Jede gute Biographie eines Literaten sollte die Reflexe und Einflüsse der von ihm erfahrenen Zeit in seinen Werken transparent machen. Solche Zeit-Abdrücke, verstanden als Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist und Verarbeitung historischer Ereignisse und Entwicklungen, sind auch in scheinbar hermetischen, betont "unpolitischen" Schriften reichlich zu finden, und sei es nur als Ausdruck von Zeit-Verweigerung, Zeit-Verdrängung oder Zeit-Verachtung. Das ist kein Plädoyer für ein plattes Verständnis von Literatur als reine Abspiegelung von selbsterlebter Geschichte, sondern für eine behutsame Befragung fiktional angelegter Texte nach ihrer Zeitzeugenschaft und damit "Geschichtshaltigkeit".

Eine solche Synthese von Geschichts- und Literaturwissenschaft bildet die methodische Basis der vorliegenden Studie. Sie untersucht auf der Grundlage zahlreicher neu erschlossener Archiv-Quellen, welchen Niederschlag die in Florenz innenpolitisch turbulenten 1350er-Jahre und vor allem die bislang nur in Umrissen rekonstruierbare Verschwörung gegen die regierende Albizzi-Fraktion vom Jahresende 1360 in drei ausgewählten Werken Boccaccios gefunden hat: in "De mulieribus claris", einer Sammlung von 106 Biographien herausragender Frauengestalten von der "Stammmutter" Eva bis zu Königin Johanna I. von Neapel, einer Zeitgenossin des Autors, in der "Consolatoria" (Trostschrift) an Pino de' Rossi und in der zweiten, grundlegend revidierten Fassung des "Trattatello in laude di Dante", einer Lebensbeschreibung zum Ruhm des 1321 verstorbenen florentinischen Dichters.

Wie jede gute Detektivarbeit ist auch diese übersichtlich und nachvollziehbar angelegt. Im ersten Teil der Studie wird Boccaccio genealogisch, ökonomisch, sozial, politisch und kulturell in "seinem" Florenz verortet. Als Sohn des Filialleiters der Bardi Bank in Neapel erbt der künftige Verfasser des "Decameron" ein Beziehungs-Netz, das ihn als Klienten mittleren Grades an die "Grossen Kompanien" anbindet, die ab den 1330er-Jahren in die Krise geraten, Anfang der 1340er-Jahre erfolgreich putschen, 1348 politisch abserviert werden und in der Folgezeit ein letztes, vergebliches Comeback versuchen, das mit der "Silvester-Konspiration" von 1360 endgültig scheitert. An diesem Aufstand beteiligten sich neben den als unfriedfertig und daher politikunfähig gebrandmarkten "Magnaten" auch Vertreter der nach dem demographischen Aderlass der Pest von 1348 nachgerückten "neuen Familien", die von dem regierenden Netzwerk "Albizzi und Freunde" durch ammonizioni (Ermahnungen oder besser: Abmahnungen), die ihnen eine falsche, anti-guelfische Gesinnung unterstellen, immer rigoroser von den führenden Ämtern ausgeschlossen wurden. Für die Wortführer der Verschwörung war diese Aussortierung unliebsamer Familien ein Akt brutaler Tyrannei, der jede Form des Widerstands, auch den gewaltsamsten, legitimierte. So weit im Grossen und Ganzen der Forschungsstand, wie er sich zwischen den Arbeiten Gene Bruckers und James Hankins eingependelt hat.

Terror ist dieses Vorgehen auch - an diesem Punkt setzen die weiterführenden Thesen Elsa Filosas an - für Boccaccio, der sich nach der Pest als einer der "homines novi" erfolgreich, vor allem als Diplomat, in den Netzwerk-Dschungel der florentinischen Politik vorgewagt und eingefügt hatte und jetzt seine Freunde, Nachbarn und nicht zuletzt sich selbst durch diese repressiven Strategien der herrschenden Familien zunehmend eingeschränkt und zurückgedrängt sah. Wie eng diese Beziehungen tatsächlich waren, weist die Verfasserin durch minutiöse prosopographische Untersuchungen nach: Nicht weniger als fünf der zwölf Hauptverschwörer, die am letzten Tag des Jahres 1360 die Geschichte von Florenz auf die "gute alte Zeit" vor 1348 zurückschrauben wollten, lassen sich als "amici" des gefeierten Decameron-Verfassers belegen, der nicht selbst zu den Angeklagten gehörte, jedoch als deren "Sympathisant" galt und sich daher im Juli 1361 vorsichtshalber in ein freiwilliges Exil nach Certaldo zurückzog.

Unfreiwillig war hingegen das Exil des florentinischen Magnaten Pino de' Rossi, den Boccaccio mit seiner "Consolatoria" innerlich aufzurichten versuchte. Wie die Verfasserin überzeugend nachweist, ist dieser "Trostbrief", der den Verbannten von allen Vergehen freispricht und sein Missgeschick der wankelmütigen Fortuna anlastet, in Wirklichkeit eine Anklageschrift gegen Rossis ungerechte Richter und ihre Auftraggeber, die machtgierigen Cliquen, die sich in Boccaccios Augen um die Albizzi zu einer eigennützigen und korrupten Partei zusammenfügen.

Schwieriger und damit indirekter sind die Einflüsse dieser tumultuösen Zeit in Boccaccios Biographien grosser Frauen nachzuweisen. Hier sticht vor allem ein Vergleich hervor. In den erstmals ausgewerteten Akten des Prozesses gegen die Verschwörer vom Jahresende 1360 ist die Rede davon, dass die beiden nach ihrer Verurteilung geköpften Hauptbeschuldigten schon zu Anfang ihrer Verhöre, also vor der Folter, den Justizorganen ihre Komplizen preisgegeben hätten. Dieses von ihm als Feigheit angeprangerte Verhalten kontrastiert Boccaccio wirkungsvoll mit Mut und Standhaftigkeit der Epicharis, die in die Pisonische Verschwörung gegen den Tyrannen Nero involviert ist, aber alle Martern stoisch erträgt und keine Mitverschwörer preisgibt. Auf diese Weise wird sie zum Vorbild für die Erzählungen des sechsten Tages im "Decameron", wo Mitglieder aus Boccaccios sozialem Umfeld in ihren Erzählungen und Unterredungen über Verschwörungen denselben Ehrenkodex vertreten. Nicht weniger Lob zollt Boccaccio den Tugendheldinnen Virginia und Lucretia, die ihre Würde und moralische Integrität höher als ihr Leben schätzten.

In der zweiten Fassung von Boccaccios Dante-Biographie sticht dagegen eine bemerkenswerte Auslassung hervor: Vom Traktat "De monarchia", einem von den herrschenden Guelfen perhorreszierten Text, findet sich im Gegensatz zur Urfassung kein Wort mehr - eine Schutzmassnahme des Literaten Boccaccio in eigener Sache.

Kritisch anzumerken ist, dass die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Klientelverbänden öfter als "Systemkonflikte" bezeichnet, also als Auseinandersetzungen zwischen ideologisch fundierten politischen Wertvorstellungen beurteilt werden. Dem steht der anderthalb Jahrzehnte später vom Novellisten Franco Sacchetti niedergeschriebene Satz, dass es Ende 1360 darum gegangen sei, einige Familien aus der Stadt zu vertreiben, entgegen; auch Boccaccios Engagement für seine Verbündeten lässt sich ohne diesen "Gesinnungsfaktor" nahtlos aus den Verpflichtungen der Klientel erklären. Auch wenn man zudem den einen oder anderen "Fundbeleg" eher als literarischen Topos denn als Reflex des Zeitgeschehens anzusehen geneigt ist, fällt das Schlussurteil über Elsa Filosas Studie positiv aus: Der Nachweis, wie sich erlebte Zeit in Literatur verwandelt, wird insgesamt überzeugend geführt. Und methodisch sollte diese vorbildliche Arbeit zur Nachahmung anregen.

Volker Reinhardt