Rezension über:

John C. Swanson: Fassbare Zugehörigkeit. Deutschsein im Ungarn des 20. Jahrhunderts, Regensburg: Friedrich Pustet 2020, 520 S., ISBN 978-3-7917-3113-1, EUR 39,95
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Rezension von:
Beátá Márkus
Universität Pécs
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Beátá Márkus: Rezension von: John C. Swanson: Fassbare Zugehörigkeit. Deutschsein im Ungarn des 20. Jahrhunderts, Regensburg: Friedrich Pustet 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/39164.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

John C. Swanson: Fassbare Zugehörigkeit

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Die Makrogeschichte der deutschen Minderheit Ungarns gilt heutzutage als ein weitgehend erforschtes Gebiet sowohl in Ungarn als auch im deutschsprachigen Raum. Das zweibändige Werk von Gerhard Seewann [1] sowie Publikationen unter anderem von Ágnes Tóth, Norbert Spannenberger und Ferenc Eiler bieten einen tiefen Einblick in Ereignisse, die vor 1989 für das Publikum kaum zugänglich waren. Zu einigen Kapiteln dieser Vergangenheit, besonders zur Vertreibung nach Deutschland ab 1946, stehen auch mikrohistorische Studien zur Verfügung, während Untersuchungen der longue durée auf Lokalebene nur für die sog. Vertriebenenliteratur charakteristisch sind.

John C. Swanson schloss diese Forschungslücke ein Stück weit, als er 2017 sein Werk Tangible Belonging. Negotiating Germanness in Twentieth-century Hungary veröffentlichte. Swanson ist Professor für Geschichte an der University of Tennessee und widmet seine Forschungen Minderheitenfragen, Nationalitäten und Zugehörigkeiten in Mittel- und Osteuropa. Die deutsche Fassung seines Werkes ist nun in der Schriftenreihe des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte im Südosteuropa erschienen.

Im Mittelpunkt der Monografie steht die Geschichte der Gemeinde Máriakéménd, eines Dorfes, den Angaben der amtlichen Volkszählung vom Jahr 1941 zufolge, mit 1248 Einwohner:innen, davon 1168 deutschen Muttersprachler:innen. [2] Geografisch gehörte das Dorf zur sog. Schwäbischen Türkei, zum größten geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet im südwestlichen Teil Ungarns, wo Deutsche und Ungarn seit den Ansiedlungen im 18. Jahrhundert mit südslawischen und anderen kleineren Bevölkerungsgruppen zusammenlebten. Swanson beginnt seine Geschichte im späten 19. Jahrhundert und verfolgt die Entwicklungen in der Mikroregion bis zum Jahr 1993, als ein Minderheitengesetz in Ungarn verkündet wurde.

Das Werk lässt sich einerseits als eine detaillierte, wissenschaftlich fundierte Monografie eines Ortes lesen. Swanson erzählt die Geschichte einer Minderheit in der ungarischen Provinz, die zur Zeit der Jahrhundertwende politisch passiv blieb. Diese Haltung veränderte sich jedoch nach dem Ersten Weltkrieg, teils als Folge der Kontakte zum Deutschen Reich. Kulturelle, später politische Vereine wurden auf Gemeindeebene, auch in Máriakéménd, gegründet. Dies geschah zwar legal, ihre Tätigkeit führte jedoch zum Bruch mit der ungarischen Mehrheit und insbesondere mit den Lokalbehörden. Während des Zweiten Weltkriegs blieb Máriakéménd ebenfalls nicht verschont, ab 1942 begannen Rekrutierungsaktionen in die Waffen-SS, die nach der deutschen Besatzung Ungarns 1944 mit Zwang durchgeführt wurden. Im Spätherbst 1944 erreichte die Rote Armee das Dorf, die als "Wiedergutmachung" 80 Zivilist:innen aus Máriakéménd zur mehrjährigen Zwangsarbeit in sowjetische Lager deportierte. Diesem Auftakt folgten weitere diskriminierende Maßnahmen gegen die Deutschen: Entrechtung, Entzug der Staatsbürgerrechte, Internierung, Enteignung des Vermögens und ab Januar 1946 die Vertreibung nach Deutschland, die erst Ende 1948 eingestellt wurde. Auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten war die Minderheit massiver Diskriminierung ausgesetzt, die zum Verlust der eigenen Sprache und Identität führte. Diese Entwicklungen werden im Band ausführlich beschrieben, und dabei stützt sich der Autor auf eine besonders breite Palette an Quellen. Außer ungarisch-, deutsch- und englischsprachiger Fachliteratur hat er zeitgenössische Pressematerialien und Interviews verwendet, ferner Archivakten aus Deutschland, Österreich und aus den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus werden Quellen aus ungarischen Sammlungen zitiert, sowohl aus dem Landesarchiv in Budapest als auch lokale Materialien aus Komitats- und Diözesanarchiven, die wegen der Sprache und ihrer eingeschränkten Zugänglichkeit in der nicht-ungarischen Fachliteratur bislang kaum rezipiert worden sind.

Swanson schreibt andererseits aber nicht nur eine Lokalgeschichte, sondern geht - wie im Titel angedeutet - auch der Frage nach, wie sich das Zugehörigkeitsgefühl zum Staat, zur Nationalität, "Volksgruppe", "Gemeinschaft" von Angehörigen einer Minderheit in bestimmten historischen Situationen verändern konnte. Damit liefert er einen Ansatz, der in der historischen Fachliteratur zur deutschen Minderheit Ungarns kaum reflektiert wurde, obwohl er sich bereits bei der Untersuchung einer relativ kurzen Zeitspanne als nützlich erweist. Bei der Volkszählung 1941 bekannten sich viele Menschen freiwillig - öfter allerdings als Folge von manipulativen Fragen - zur deutschen Muttersprache und/oder Nationalität; bei den Zwangsrekrutierungen in die Waffen-SS entschieden deutsche Offiziere und die lokalen Behörden darüber, wer zur "Volksgruppe" gehört; bei der Deportation in die Sowjetunion hoben sowjetische Soldaten "Personen deutscher Abstammung" zur Zwangsarbeit aus, des Öfteren auf Grundlage einer Namensanalyse; bei der Vertreibung nach Deutschland wählten wiederum ungarische Kommissionen die Menschen aufgrund der Volkszählungsangaben, oder wegen der Mitgliedschaft in deutschen Vereinen, für die Transporte aus. Sowohl die Zuschreibungen durch Zweit- und Drittpersonen als auch die Selbstidentifikationen variierten ständig, und nur eine so tiefgehende Untersuchung der Hintergründe wie die von Swanson vorgenommene kann zeigen, dass Zugehörigkeiten ständig mit dynamischen und situativen Entscheidungen verbunden sind.

Das Buch ist mit zahlreichen Fotos illustriert und in einem sehr gut lesbaren Stil verfasst. So ist es nicht nur für Leser:innen empfehlenswert, die die Vergangenheit der Region um Máriakéménd kennenlernen möchten, sondern liefert auch inspirierende Gedanken für alle, die sich mit Minderheitengeschichte auseinandersetzen möchten. Nach der englischen und deutschen Fassung wünscht die Rezensentin auch dem ungarischsprachigen Publikum eine Übersetzung.


Anmerkungen:

[1] Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn, Bd. 1-2, Marburg 2012.

[2] Az 1941. évi népszámlálás. Demográfiai adatok községek szerint [Die Volkszählung vom Jahr 1941. Demografische Daten der Gemeinden], Budapest 1947, 13.

Beátá Márkus